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von Ronja Seggelke
Die Parteien stritten über die Höhe der tariflichen Sonderzahlung für das Jahr 2020.
Sachverhalt: Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien findet kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit der Manteltarifvertrag für Abreitnehmer der gewerblichen Verbundgruppe in Brandenburg vom 22.12.2011 (MTV) Anwendung. In § 17 Nr. 1, 2 MTV ist ein Anspruch auf eine jährliche Sonderzahlung geregelt. § 17 Nr. 6 MTV gibt dem Arbeitgeber das Recht die Sonderzahlung zu kürzen. Darin heißt es wie folgt: „Ruhen die Rechte aus dem Arbeitsverhältnis bzw. des Ausbildungsverhältnis, z.B. bei Wehrdienst, Zivildienst, Elternzeit oder besteht kein Anspruch auf Arbeitsentgelt, Ausbildungsvergütung, Lohnersatzzahlungen von mehr als zwei Wochen im Kalendermonat, so ermäßigt sich der Anspruch um 1/12 je Kalendermonat.“
Der Kläger war im Jahr 2020 im Zeitraum vom 20.04.2020 bis zum 30.08.2020 arbeitsunfähig erkrankt und bezog ab dem 02.06.2020 Krankengeld. Die Rechtsvorgängerin der Beklagten leistete im November 2020 eine Sonderzahlung, die für die Zeit des Krankengeldbezuges des Klägers um 3/12 gekürzt war.
Der Kläger begehrt mit der Klage Zahlung des gekürzten Betrages der Sonderzahlung. Er ist der Auffassung, dass er während der gesamten Dauer der Erkrankung Lohnersatzleistungen iSd § 17 Nr. 6 MTV bezogen habe. Die Beklagte vertritt hingegen die Auffassung, dass Lohnersatzleistungen iSd § 17 Nr. 6 MTV nur solche des Arbeitgebers seien.
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat auf die Berufung der Beklagten das Urteil des Arbeitsgerichts abgeändert und die Klage abgewiesen. Die Revision des Klägers hatte Erfolg.
Entscheidung: Nach Ansicht des Bundesarbeitsgerichts (Urteil vom 26.04.2023 – 10 AZR 163/22) sei die Beklagte nicht berechtigt gewesen, die Sonderzahlung nach § 17 Nr. 6 MTV wegen des Krankengeldbezuges um 3/12 zu kürzen. Krankengeld sei eine Lohnersatzzahlung im Sinne des Tarifvertrages. Zu diesem Ergebnis gelangte das Bundesarbeitsgericht durch Auslegung des Tarifvertrages, wobei es auf seine ständige Rechtsprechung zu den Grundsätzen der Tarifauslegung verweist. Daran anlehnend begann das Bundesarbeitsgericht mit der Wortlautauslegung. Dabei sei vom allgemeinen Sprachgebrauch auszugehen, da die Tarifvertragsparteien den Begriff „Lohnersatzzahlung“ nicht eigenständig definieren, erläutern oder einen feststehenden Rechtsbegriff verwenden. Ein Rückgriff auf den Begriff der „Lohnersatzleistungen“ aus § 32b Abs. 1 Nr. 1 lit. b EstG sei dabei nicht möglich, da der Norm keine verallgemeinerungsfähige Begriffsbestimmung zugrunde liege, die über ihren Anwendungsbereich im Steuerrecht hinaus allgemeine Geltung beanspruchen könne. Ein weiteres Verständnis des Begriffs begründet das Bundesarbeitsgericht dabei durch Darstellung des allgemeinen arbeitsrechtlichen Verständnisses von „Lohnersatzleistungen“ im Zeitpunkt des Abschlusses des MTV. Hierbei bezieht sich das Bundesarbeitsgericht auf die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts im Zeitpunkt des Abschlusses des MTV. Hiernach sei von keiner Begrenzung auf Lohnersatzleistungen durch den Arbeitgeber erkennbar, da das Bundesarbeitsgericht unter Lohnersatzleistungen auch Krankengeldleistungen, das vormalige Konkursausfallgeld und das Arbeitslosengeld verstanden hat. Anhaltspunkte dafür, dass die Tarifvertragsparteien hingegen von einem engeren Verständnis ausgegangen seien, ergeben sich aus dem MTV nicht. Insbesondere habe der Wille, die Sonderzahlung für Zeiten des Krankengeldbezuges zu kürzen, keinen hinreichenden Niederschlag im Wortlaut des ohne jegliche Einschränkung verwendeten Begriffs „Lohnersatzleistungen“ gefunden. Zu einem anderen Auslegungsergebnis gelangt das Bundesarbeitsgericht auch nicht durch Beachtung der Systematik, des Gesamtzusammenhangs und dem Sinn und Zweck der Regelung. Das Auslegungsergebnis, dass zu den „Lohnersatzzahlungen“ im Sinne des § 17 Nr. 6 MTV auch das Krankengeld zähle, führe schließlich nach Ansicht des Bundesarbeitsgerichts auch zu einem praktisch brauchbaren Ergebnis. In diesem Zusammenhang geht das Bundesarbeitsgericht auch darauf ein, dass der Bezug von Krankengeld nicht mit dem Ruhen des Arbeitsverhältnisses gleichzusetzen sei. Bei einem Ruhen des Arbeitsverhältnisses liege eine wechselseitige Suspendierung der Hauptpflichten vor. Die Kürzungsmöglichkeit stelle somit als Voraussetzung gerade auf das Fehlen eines Anspruchs auf Arbeitsentgelt oder Lohnersatzleistungen ab.
Hinweis: Das Bundesarbeitsgericht verdeutlicht in dieser Entscheidung noch einmal die anerkannten Auslegungsmethoden hinsichtlich einer tarifvertraglichen Regelung und verweist insbesondere zutreffend auf den Aspekt der geltenden Rechtsprechung im Zeitpunkt des Abschlusses des Tarifvertrages. Die Ausgangsbasis für die Begriffsfindung in tariflichen Regelungen (man wird dies auch für Betriebsvereinbarungen annehmen können) ist damit in dem aktuellen Verständnis des Begriffs in der Rechtsprechung zu suchen. Will man von diesem Verständnis abweichen, so muss man dies regeln.