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von Dr. Jutta Cantauw
Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat entschieden, dass die Arbeitsgerichte bei der außerordentlichen Kündigung eines schwerbehinderten Menschen (nur) zu prüfen haben, ob die Kündigung gemäß § 174 Abs. 5 SGB IX unverzüglich nach Erteilung der Zustimmung erklärt wurde, nicht hingegen, ob die zweiwöchige Antragsfrist (§ 174 Abs. 2 SGB IX) bzw. die Frist des § 626 Abs. 2 BGB eingehalten worden ist.
Sachverhalt: Die Parteien streiten über eine außerordentliche Kündigung. Der Kläger arbeitete seit dem Jahr 2000 als Hausmeister bei der Beklagten und ist einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellt. Bei einer Kontrolle der Telefonrechnungen stellte die Beklagte im Januar 2018 fest, dass über die Nebenstellennummern des Klägers und eines Kollegen im Zeitraum von Ende Juni bis Anfang August 2017 insgesamt 2756 Mal kostenpflichtig die Rufnummer einer Glücksspiel-Hotline gewählt worden war. Der Kläger wurde nach Beendigung einer zweiwöchigen krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit am 13./14.03.2018 zu den Vorwürfen angehört. Er bestritt die Vorwürfe. Am 16.03.2018 beantragte die Beklagte beim Integrationsamt die Zustimmung zur außerordentlichen Tat- und hilfsweise Verdachtskündigung. Am 04.04.2018 (Mittwoch nach Ostern) bestätigte das Integrationsamt den Eintritt der Fiktion gemäß § 174 Abs. 3 Satz 2 SGB IX. Noch am selben Tage hörte die Beklagte den bei ihr bestehenden Betriebsrat an, der in einer abschließenden Stellungnahme am 09.04.2018 (Montag) Bedenken äußerte. Gleichfalls wurde am 04.04.2018 die Schwerbehindertenvertretung angehört, die keine Stellung nahm. Am 10.04.2018 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis außerordentlich fristlos.
Entscheidung: Die Vorinstanzen gaben der Kündigungsschutzklage statt. Das BAG (Urteil vom 11.06.2020 – 2 AZR 442/19) wies die Sache zur erneuten Entscheidung an das Landesarbeitsgericht zurück, weil dieses nach Auffassung des BAG rechtsfehlerhaft davon ausgegangen war, dass die Kündigung wegen Versäumung der Kündigungserklärungsfrist des § 626 Abs. 2 BGB unwirksam war.
Von den Arbeitsgerichten sei ausschließlich zu prüfen, ob die Kündigung gemäß § 174 Abs. 5 SGB IX unverzüglich nach der Erteilung der Zustimmung bzw. Eintritt der Zustimmungsfiktion erklärt worden sei. Nicht zu prüfen sei demgegenüber, ob die Zustimmung gemäß § 174 Abs. 2 SGB IX innerhalb von zwei Wochen ab Kenntnis der für die Kündigung maßgebenden Tatsachen beantragt worden sei. Die Einhaltung dieser Frist sei ausschließlich vom Integrationsamt im Rahmen der Prüfung des Zustimmungsantrags zu berücksichtigen. Die Beklagte habe die Kündigung unverzüglich i. S. v. § 174 Abs. 5 SGB IX erklärt. Dass der Betriebsrat erst nach Eintritt der Zustimmungsfiktion angehört worden sei, stehe dem nicht entgegen. Sowohl der Betriebsrat als auch die Schwerbehindertenvertretung seien noch am selben Tag angehört und die Kündigung unmittelbar nach Abschluss der Anhörungsverfahren ausgesprochen worden. Dies sei ausreichend.
Hinweis: Das BAG gibt mit dieser Entscheidung seinen früheren Standpunkt auf, nach dem die Arbeitsgerichte auch die rechtzeitige Antragstellung bzw. Einhaltung der Frist des § 626 Abs. 2 BGB zu überprüfen hatten. Die Prüfung der rechtzeitigen Antragstellung ist damit jedoch nicht hinfällig. Diese wird von den Integrationsämtern geprüft und es steht zu erwarten, dass betroffene Arbeitnehmer im Zweifel Bedenken gegen die Einhaltung der Frist nunmehr verstärkt im verwaltungsgerichtlichen Verfahren gegen die erteilte Zustimmung geltend machen werden.
Erfreulich ist, dass es das BAG im Rahmen von § 174 Abs. 5 SGB IX akzeptiert, wenn Betriebsrat und Schwerbehindertenvertretung erst nach Erteilung der Zustimmung bzw. Eintritt der Zustimmungsfiktion angehört werden.