Was eingepreist und wo vorgesorgt werden sollte
Bisher wenig bemerkt, haben sich die Anforderungen an die Vergütungsgestaltung grundlegend geändert. Die Rechtsprechung hat die roten Linien bei der Vergütungsgestaltung neu gezogen. Betroffen sind sowohl das Fixgehalt als auch Zuschläge sowie die variable Vergütung. Und das ist noch lange nicht alles. Parallel muss der Gesetzgeber die Entgelttransparenzrichtlinie zeitnah umsetzen. Die wenigsten Arbeitgeber sind für dieses Gewitter gut gerüstet. Wer sich besser aufstellen will, sollte auf keinen Fall mehr abwarten, sondern die Chancen nutzen, die die kommenden Gehaltsrunden bieten. Denn dann müssen die Karten auf den Tisch gelegt werden.
I. Neue Entwicklungen und Risiken, die in den kommenden Gehaltsrunden zu berücksichtigen sind
Gleichbehandlung I: Allgemeiner arbeitsrechtlicher Gleichbehandlungsgrundsatz
Der allgemeine arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz war in der Rechtsprechung lange v. a. im Zusammenhang mit der Gewährung von Sonderzahlungen von Bedeutung, etwa bei Weihnachtsgratifikationen. Bei der individuellen Gehaltsentwicklung und jährlichen Gehaltsrunde, gestand die Rechtsprechung dem Arbeitgeber (und dem Arbeitnehmer) bisher einen privatautonomen Gestaltungsspielraum zu.
Jetzt verschärft die Rechtsprechung die Anforderungen in mehrfacher Hinsicht – nunmehr gilt:
- Bereits die übliche jährliche Gehaltsrunde ist eine Maßnahme, bei der der Arbeitgeber unterschiedliche Erhöhungen bei einzelnen Arbeitnehmern sachlich rechtfertigen muss. Wird beispielsweise einem Arbeitnehmer eine Erhöhung um 1% gewährt, einem anderen dagegen um 4%, so bedarf dies einer konkreten sachlichen Rechtfertigung. Der pauschale Verweis darauf, dass das Erhöhungsbudget „leistungsbezogen“ verteilt wurde, wird hierfür nicht genügen.
- Gelingt die sachliche Rechtfertigung nicht, so steht dem „benachteiligten“ Arbeitnehmer ein Anspruch auf eine Gehaltserhöhung gemäß dem Gleichbehandlungsgrundsatz zu. Nach einer rechtskräftigen Entscheidung des LAG Düsseldorf richtet sich dieser Anpassungsanspruch „nach oben“ nicht nur auf den Durchschnitt der gewährten Gehaltserhöhungen, sondern auf die höchste Erhöhung, also diejenige Erhöhung, die der Spitzenreiter erhalten hat (vgl. LAG Düsseldorf v. 20.04.2023 – 13 Sa 535/22).
Gleichbehandlung II: Gleiches Entgelt für alle Geschlechter für gleiche oder gleichwertige Arbeit
Schon bisher galt Folgendes:
- Arbeitnehmern darf für gleiche oder gleichwertige Arbeit wegen des Geschlechts keine geringere Vergütung gezahlt werden, wenn nicht objektive, geschlechtsneutrale Kriterien die unterschiedliche Vergütung rechtfertigen.
- Ob eine Arbeit gleichwertig ist (und damit gleich zu bezahlen), richtet sich danach, ob sich die Arbeitnehmer nach einer Gesamtbetrachtung der maßgebenden Faktoren (insbes. Art der Arbeit, Ausbildungsanforderungen und Arbeitsbedingungen) in einer vergleichbaren Situation befinden. Dass bestimmte Arbeiten „herkömmlicherweise“ geringer vergütet werden, spielt dabei keine Rolle.
- Entgeltsysteme müssen transparent sein, die Art der Tätigkeit objektiv berücksichtigen und geschlechtsneutral sein (Kriterien, Gewichtung).
Lange „dümpelten“ diese Grundsätze vor sich hin. Das Entgelttransparenzgesetz erschien zunächst als ein „zahnloser Tiger“. Jetzt verleiht ihm das Bundesarbeitsgericht (BAG) neuartige Schlagkraft und verhilft dem Entgeltgleichheitsgrundsatz auch hiervon unabhängig zur Durchsetzung. Konkret hat das BAG entschieden:
- Jeder Vergütungsbestandteil ist grundsätzlich gesondert zu betrachten (BAG 21.02.2021 – 8 AZR 488/19; 16.02.2023 – 8 AZR 450/21). Es kann also für die Frage des Ob und des Umfangs einer (ggf. auszugleichenden) Ungleichbehandlung nicht auf die Gesamtvergütung im Sinne einer Aufsummierung der Vergütungsbestandteile abgestellt werden. Ein (höherer) Bonus kompensiert z. B. keine geringere Fixvergütung.
- Eine Diskriminierung wegen des Geschlechts wird regelmäßig gem. § 22 AGG vermutet, wenn bei Verrichtung gleicher oder gleichwertiger Arbeit
- das Entgelt einer Frau unter dem nach §§ 10 ff. EntgTranspG mitgeteilten Vergleichsentgelt (Median-Entgelt) eines Mannes liegt (BAG 21.02.2021 – 8 AZR 488/19),
- aber auch bereits dann, wenn einem Arbeitnehmer ein niedrigeres Entgelt gezahlt wird als einem zum Vergleich herangezogenen Kollegen des anderen Geschlechts, obwohl beide gleiche oder gleichwertige Arbeit verrichten (BAG 16.02.2023 – 8 AZR 450/21; anders LAG Baden-Württemberg v. 01.10.2024 – 2 Sa 14/24, Rev. zugel.).
- Die Vermutung kann zwar widerlegt werden. Dies erwies sich in den bisher vom BAG entschiedenen Fällen allerdings als theoretische Frage. Die von den Arbeitgebern angeführten Argumente wurden nicht gehört. Die Anforderungen sind extrem hoch.
Nicht ausreichend sind z.B.:
- der pauschale Verweis auf die Arbeitsmarktsituation (BAG 16.02.2023 – 8 AZR 450/21) oder eine unterschiedliche Performance,
- das unterschiedliche Verhandlungsgeschick der beteiligten Mitarbeiter (BAG 16.02.2023 – 8 AZR 450/21).
Erwogen werden:
- konkrete, im Einzelnen nachgewiesene Personalgewinnungsschwierigkeiten (BAG 16.02.2023 – 8 AZR 450/21),
- bessere, für die Tätigkeit relevante Qualifikation, längere einschlägige Berufserfahrung (BAG 16.02.2023 – 8 AZR 450/21).
Folge einer Diskriminierung ist regelmäßig ebenfalls die Anpassung „nach oben“, d. h. der Diskriminierte hat Anspruch auf die Vergütung des vergleichbaren nicht Diskriminierten (neben evt. Ansprüchen auf Schadensersatz bzw. Entschädigung). Entsprechende Prozesse wie jüngst die Klage einer Führungskraft der Daimler Truck AG erfahren eine hohe öffentliche Aufmerksamkeit (LAG Baden-Württemberg v. 01.10.2024 – 2 Sa 14/24; eingeklagt worden war eine Vergütungsdifferenz von ca. EUR 420.000 für 5 Jahre).
Gleichbehandlung III: Überstundenzuschläge für Teilzeitkräfte
Gemäß dem EuGH (v. 29.07.2024 – C – 184/22, C – 185/22) stehen Teilzeitkräften Überstundenzuschläge grundsätzlich ab Überschreiten ihrer individuellen Arbeitszeit zu, wenn den Vollzeitkräften die Zuschläge ab Überschreiten der Vollzeitarbeitszeit zustehen.
Bisher sehr verbreitete Regelungen, die die Zuschläge für Teilzeitkräfte erst ab Überschreiten der Vollzeitarbeitszeit vorsehen, können daher eine unzulässige Diskriminierung beinhalten (wegen der Teilzeit, häufig auch wegen des Geschlechts). Zwar hat das BAG hier noch das letzte Wort. Die Spielräume für die Rechtfertigung entsprechender Regelungen sind allerdings mit Blick auf die EuGH-Rechtsprechung gering. Vom BAG angeführte, gängige Rechtfertigungen hat der EuGH bereits verworfen.
Liegt eine unzulässige Diskriminierung vor, können die diskriminierten Teilzeitkräfte u.a. die Zuschläge im Rahmen von Verjährung und Ausschlussfristen nachfordern und zukünftig geltend machen. Im Falle einer Diskriminierung wegen des Geschlechts, drohen zusätzlich Schadensersatz bzw. Entschädigungsansprüche. All das gilt auch, wenn entsprechende Regelungen in Tarifverträgen enthalten sind. Vgl. infomaat 3.2024.
Gleichbehandlung IV: Betriebsverfassungsrechtlicher Gleichbehandlungsgrundsatz
Auch bei mitbestimmten Vergütungssystemen und/oder Einmalleistungen ist Vorsicht geboten. Arbeitgeber und Betriebsrat haben den betriebsverfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz (§ 75 Abs. 1 BetrVG) zu beachten. Die Entscheidung, einer Gruppe von Beschäftigten eine Leistung zukommen zu lassen und einer anderen nicht, bedarf einer sachlichen Rechtfertigung. Auch wenn die Betriebsparteien hinsichtlich der Leistungshöhe zwischen Arbeitnehmergruppen unterscheiden, muss dies sachlich gerechtfertigt sein. Fehlt eine sachliche Rechtfertigung, haben die benachteiligten Beschäftigten nach einer aktuellen Entscheidung des BAG einen unmittelbaren Anspruch gegen den Arbeitgeber auf die vorenthaltene Leistung – auch wenn dadurch das zu Verfügung gestellte Budget „gesprengt“ wird (BAG 30.01.2024 – 1 AZR 74/23). Welche sachlichen Kriterien herangezogen werden können, ist nicht abschließend geklärt.
Zielvereinbarungen
Überraschend hat das BAG etablierte Vorgehensweisen beim Abschluss von Zielvereinbarungen gekippt (BAG Urt. v. 03.7.2024 – 10 AZR 171/23). Zielvereinbarungen und Zielvorgaben sind nach dem BAG zwar weiterhin zulässig. Die verbreitete Regelung, wonach der Arbeitgeber bei einem Scheitern der Verhandlungen über eine Zielvereinbarung als Auffanglösung ohne weiteres einseitig Zielvorgaben machen kann, soll den Arbeitnehmer allerdings unangemessen benachteiligen (§ 307 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 BGB) und deshalb unwirksam sein. Der Arbeitnehmer könne über die Ziele nicht wirklich verhandeln. Seine Forderungen könnten durch den Arbeitgeber jederzeit unterlaufen werden, da dieser die Verhandlungen einfach abbrechen könne, um seine Ziele durchzusetzen. Jedenfalls wenn den Arbeitgeber das überwiegende Verschulden am Nichtzustandekommen der Zielvereinbarung trifft, führt das nach dem BAG zu einem Schadenersatzanspruch des Arbeitnehmers in Höhe der (ggf. zeitanteiligen) Sonderzahlung.
II. Was kommt noch?
Mit Umsetzung der Entgelttransparenzrichtlinie werden den Arbeitnehmern die notwendigen Werkzeuge für die erheblich vereinfachte Aufdeckung nicht gerechtfertigter Vergütungsunterschiede und die Geltendmachung von Ausgleichsansprüchen geliefert. Unter anderem sieht die vom deutschen Gesetzgeber bis zum 07.06.2026 umzusetzende Richtlinie vor:
- Arbeitgeber müssen geschlechtsneutrale Vergütungsstrukturen und Stellenbewertungssysteme vorsehen;
- Im Bewerbungsverfahren ist über die Einstiegsgehälter zu informieren;
- Arbeitnehmern darf nicht verboten werden, gegenüber Kollegen oder Dritten die eigene Vergütung offenzulegen;
- Arbeitgeber müssen einfach zugänglich Informationen über die Kriterien für die Festlegung von Entgelt, Entgelthöhe und Entgeltentwicklung bereitstellen;
- Alle Arbeitgeber müssen Arbeitnehmern über die durchschnittliche Vergütung des eigenen und des anderen Geschlechts Auskunft erteilen;
- Eine Privilegierung von tariflichen Vergütungssystemen ist grundsätzlich nicht vorgesehen;
- In Unternehmen ab 100 Arbeitnehmern muss über den Gender-Pay-Gap berichtet werden (ab 150 Arbeitnehmern erstmals für 2026(!), darunter erstmals für 2030).
Außerdem ist zu erwarten, dass die Sanktionen für Gesetzesverstöße erheblich verschärft werden.
III. Was können Arbeitgeber tun?
Gleichbehandlung
Abwarten ist jetzt keine (gute) Option mehr. Höchste Zeit, die Vergütungsstrukturen unter die Lupe zu nehmen.
Gut aufgestellt ist, wer seine Vergütungsstrukturen und -prozesse bereits jetzt an der Art der Arbeit orientiert, geschlechtsneutral ausgestaltet und für eine umfassende Dokumentation der zugrunde gelegten sachlichen Differenzierungskriterien Sorge trägt. Für viele Unternehmen ist dies eher mittelfristig realistisch.
Wer noch am Anfang steht, sollte die nächsten Gehaltsrunden zumindest zur Risikoreduzierung nutzen. Neben erheblichen Vergütungs(nach)forderungen und rechtlichen Auseinandersetzungen gilt es auch Reputationsschäden vorzubeugen. Schon eine grobe Analyse der Vergütungsunterschiede kann die schlimmsten Ausreißer offenlegen. In den bevorstehenden Gehaltsrunden kann ein Teil der zur Verfügung stehenden Mittel genutzt werden, solche Unwuchten abzumildern. Dabei ist darauf zu achten, dass unterschiedliche Erhöhungen anhand konkreter sachlicher Kriterien begründet werden können. Dies gilt auch dann, wenn die Gehaltsrunde unter Beteiligung des Betriebsrats verhandelt wird.
Wer das Thema grundlegender angehen und mehr Rechtssicherheit gewinnen möchte, sollte zunächst die Gleichwertigkeit vorhandener Stellen prüfen („Grading“) und feststellen, aus welchen Gründen die Inhaber gleichwertiger Stellen ggf. unterschiedlich vergütet werden. Wo tragfähige Gründe fehlen, können die nächsten Gehaltsrunden für einen (teilweisen) Ausgleich genutzt werden. Parallel können die Vergütungsstruktur, die Prozesse der Vergütungsfindung und deren Dokumentation optimiert werden (Systematisierung, Objektivierung/stärkere Ausrichtung an der Art der Arbeit, Geschlechtsneutralisierung, Sicherstellung umfassender Dokumentation).
Überstundenzuschläge
Regelungen zu Überstundenstundenzuschlägen gehören auf den Prüfstand. Regelungen, nach denen sowohl Teilzeit- als auch Vollzeitkräften Überstundenzuschläge (erst) ab Überschreiten der Vollzeitarbeitszeit zustehen, bergen ein sehr hohes Unwirksamkeitsrisiko und können Schadensersatz- bzw. Entschädigungsansprüche nach dem AGG auslösen. Wo keine mit der aktuellen EuGH-Rechtsprechung zu vereinbarende Rechtfertigung ersichtlich ist, sollten Arbeitgeber bereits jetzt Anpassungen ernsthaft in Betracht ziehen. Arbeitgeber, die solche Regelungen weiter anwenden, müssen die Rechtsprechung im Blick behalten und sich auf Nachforderungen einstellen.
Zielvereinbarungen
Zielvereinbarungsregelungen, die dem Arbeitgeber die Möglichkeit einräumen, bei Scheitern der Gespräche Zielvorgaben zu machen, werden regelmäßig unwirksam sein. Mangels Auffanglösung ist bei bestehenden Verträgen daher besonderes Augenmerk auf den Zielvereinbarungsprozess zu legen. Verhandlungen sind rechtzeitig (möglichst vor Beginn der Zielperiode) anzustoßen und es sind realistische (also erreichbare) Ziele vorzuschlagen. Auf eine genaue Dokumentation des Verhandlungsvorgangs ist zu achten, da daraus Argumente für ein Mitverschulden des Arbeitnehmers beim Scheitern abgeleitet werden können. In neuen Verträgen sollte jedenfalls bis zur Klärung der Anforderungen an die Zielvereinbarungsgespräche von vornherein allein auf Zielvorgaben gesetzt werden.