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Keine unionsrechtliche Modifikation der Darlegungs- und Beweislast im Überstundenvergütungsprozess

von Ronja Seggelke

Sachverhalt: Die Parteien stritten über die Vergütung von Überstunden. Der Kläger war von 01.10.2014 bis 30.06.2019 als Auslieferungsfahrer für Lebensmittelbestellungen bei der Beklagten, einem Einzelhandelsunternehmen, beschäftigt. Die Arbeitszeiterfassung bei der Beklagten erfolgt mittels technischer Zeitaufzeichnung. Die Mitarbeitenden erfassen dabei Beginn und Ende ihrer Arbeitszeit. Pausenzeiten werden von den Fahrern nicht erfasst. Bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses ergab die Auswertung der Zeitaufzeichnung des Klägers einen positiven Saldo von 348 Stunden.

Mit der Klage hat der Kläger Überstundenvergütung in Höhe von 5.222,67 € für den Zeitraum vom 4. Januar 2016 bis zum 16. Juli 2018 geltend gemacht. Der Kläger berief sich dabei auf die Zeitaufzeichnung. Er habe die gesamte Zeit gearbeitet. Pausen habe er keine machen können, da sonst die Auslieferungsaufträge nicht hätten abgearbeitet werden können. Die Beklagte führte aus, dass die Zeitaufzeichnung nicht die zu vergütende Arbeitszeit dokumentieren würden. Es handele sich um sog. „Kommt- und Geht-Zeit“. Der Kläger sei angewiesen worden, arbeitstägliche Pausen zu nehmen und habe solche auch gemacht. Darüber hinaus habe er regelmäßig zusätzliche Raucherpausen genommen.

Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat das Urteil des Arbeitsgerichts abgeändert und die Klage – mit Ausnahme bereits von der Beklagten abgerechneter Überstunden – abgewiesen. Die Revision des Klägers wurde vom BAG zurückgewiesen.

Entscheidung: Nach dem Urteil des BAG (Urteil vom 04.05.2022 – 5 AZR 359/21) hat der Kläger zwar den Umfang der geleisteten Überstunden schlüssig dargelegt, nicht jedoch deren Veranlassung durch die Beklagte.

Das BAG arbeitet dabei heraus, dass ein Arbeitnehmer, der Vergütung für geleistete Überstunden verlangt, zur Begründung seines Anspruchs zunächst darzulegen hat, dass er Arbeit in einem die Normalarbeitszeit übersteigenden Umfang verrichtet hat. Vorliegend habe der Kläger seiner Verpflichtung durch Auflistung der Arbeitszeiten für jeden einzelnen Tag und durch das Berufen auf den positiven Saldo der technischen Zeitaufzeichnung entsprochen. Zudem bestätigte das BAG, dass das Landesarbeitsgericht die Glaubhaftigkeit dieses Vortrages nicht weiter untersuchen musste, da die Stundenzahl zwischen den Parteien nicht streitig gewesen ist.

Daneben verdeutlicht das BAG, dass ein Arbeitnehmer im Überstundenvergütungsprozess weiter darzulegen hat, dass der Arbeitgeber die geleisteten Überstunden ausdrücklich oder konkludent angeordnet, geduldet oder nachträglich gebilligt hat. Diese Darlegung sei erforderlich, da der Arbeitgeber zur Vergütung von Arbeit in einem die Normalarbeitszeit übersteigenden zeitlichen Umfang nur verpflichtet sei, wenn er die Leistung von Überstunden veranlasst habe oder sie ihm zumindest zuzurechnen sei. Der Arbeitgeber werde so vor der Vergütung für aufgedrängte überobligatorische Mehrarbeit geschützt.

Dieses Erfordernis zur Darlegung der arbeitgeberseitigen Veranlassung und Zurechnung von geleisteten Überstunden wird nach Ansicht des BAG auch nicht durch die Entscheidung des Gerichtshofes der Europäischen Union zur Pflicht des Arbeitgebers zur Errichtung eines Systems zur Erfassung der täglichen Arbeitszeit (EuGH 14. Mai 2019 C-55/18 – sog. „Stechuhr-Entscheidung“) modifiziert.

Das BAG begründet dies mit der erforderlichen Unterscheidung zwischen arbeitsschutzrechtlicher und vergütungsrechtlicher Einordnung als Arbeitszeit.
Die Entscheidung des EuGH sei zur Auslegung und Anwendung der Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG und von Art. 31 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ergangen. Die Arbeitszeitrichtlinie regele bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung und gewährleiste den Schutz der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer. Demnach sei der Zweck der Richtlinie kein vergütungsrechtlicher, sondern bestehe vielmehr allein in den Belangen des Arbeits- und Gesundheitsschutzes von Arbeitnehmern. Unionsrechtliche Regelungen aus der Arbeitszeitrichtlinie fänden grundsätzlich keine Anwendung auf die Vergütung von Arbeitnehmern. Folglich habe die unionsrechtlich begründete Pflicht zur Messung der täglichen Arbeitszeit keine rechtliche Relevanz auf die innerhalb eines Überstundenvergütungsprozess nach deutschem Prozessrecht und materiellen Recht entwickelten Grundsätzen über die Verteilung der Darlegungs- und Beweislast.

Im vorliegenden Fall hab der Kläger, der somit weiterhin bestehende Darlegungslast hinsichtlich der Veranlassung der gemachten Überstunden, nicht ausreichend entsprochen.
Das BAG führt dazu aus, dass für die Annahme einer ausdrücklichen Anordnung von Überstunden die pauschale Behauptung des Klägers nicht ausreicht. Das Landesarbeitsgericht habe rechtsfehlerfrei festgestellt, dass der Kläger vielmehr hätte aufzeigen können und müssen, aus welchen in den konkreten Arbeitsabläufen liegenden Gründen er keine Pause machen konnte. Durch die fehlende Beschreibung im Detail sei nicht erkennbar, dass die Arbeit nur unter Ableistung von Überstunden zu bewältigen gewesen war.
Auch könne ein pauschales Berufen auf die Zeitaufzeichnung nicht zur Annahme einer Billigung oder Duldung von Überstunden ausreichen. Die bloße Erfassung von Kommt- und Geht-Zeiten beinhalte keinen dahingehenden Erklärungswert, dass die Beklagte etwaige geleistete Überstunden genehmige. Ferne begründe eine solche technische Aufzeichnung auch keine Kenntnis der Beklagten von bestimmten Überstundenleistungen. Hierbei wäre ein Hinweis des Klägers auf die fehlende Möglichkeit der Inanspruchnahme der Pause erforderlich gewesen.

Hinweis: Die Entscheidung des BAG arbeitet in anschaulicher Weise die Anforderungen an die Darlegungs- und Beweislast des Arbeitnehmers innerhalb von Überstundenvergütungsprozessen heraus und lehnt im Ergebnis zutreffend eine Modifikation durch die unionsrechtliche Pflicht zur Messung der Arbeitszeit ab.

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