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Koinzidenz zwischen Kündigung und Arbeitsunfähigkeit – Neues zur Erschütterung des Beweiswerts von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen

von Jennifer Frost

Ernsthafte Zweifel am Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung können dann bestehen, wenn passgenau für die Dauer der Kündigungsfrist mehrere Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vorgelegt werden und der Arbeitnehmer unmittelbar nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses eine neue Beschäftigung aufnimmt.

 

Anspruch auf Entgeltfortzahlung infolge Arbeitsunfähigkeit bei zwischenzeitlicher Kündigung?

Sachverhalt: Die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) betraf einen Streit zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer um Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall. Der Arbeitnehmer legte am 02.05.2022 eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vom 02.05. für den Zeitraum vom 02.05. bis 06.05. vor. Zwischenzeitlich ging dem Arbeitnehmer am 03.05. ein arbeitgeberseitiges Kündigungsschreiben vom Vortag zu, in dem die Kündigung zum 31.05.2022 erklärt wurde. Daraufhin legte der Arbeitnehmer mehrere Folge-Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vor, in denen die Arbeitsunfähigkeit zunächst bis zum 20.05. und sodann vom 20.05. bis zum 31.05. bescheinigt wurde. Am 01.06. war der Arbeitnehmer wieder arbeitsfähig und nahm eine neue Beschäftigung auf. Der Arbeitgeber verweigerte infolge dieser „verdächtigen“ Koinzidenz zwischen Kündigung und bescheinigter Arbeitsunfähigkeit für den Zeitraum ab 02.05. die Entgeltfortzahlung und verwies auf begründete Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit. Der Arbeitnehmer begehrte daraufhin im Prozess Entgeltfortzahlung für den Zeitraum vom 02.05. bis 31.05.2022.

 

Beweiswert erschüttert bei passgenauer Verlängerung und Aufnahme einer neuen Beschäftigung am Tag nach dem Ablauf der Kündigungsfrist

Entscheidung: Die Revision der Beklagten hatte teilweise Erfolg. Jedenfalls hinsichtlich des Zeitraums vom 07.05. bis 31.05.2022 bejahte das BAG (Urteil vom 13.12.2023 – 5 AZR 137/23) eine Erschütterung des Beweiswerts der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen. Zudem erweiterte das BAG seine Rechtsprechung zur Erschütterung des Beweiswerts von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen auf die Beendigung des Arbeitsverhältnisses an sich, sodass für die Frage der Erschütterung des Beweiswerts nicht entscheidend ist, ob es sich um eine Eigenkündigung des Arbeitnehmers oder eine Kündigung des Arbeitgebers handelt.

In seinem Urteil betrachtete das BAG den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen für die verschiedenen Zeiträume gesondert. Es sah den Beweiswert der ersten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung als nicht erschüttert an, da die Erstbescheinigung bereits vor Zugang der Kündigung ausgestellt worden war. Für den Rest der Zeit bzw. die übrigen zwei Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen nahm das BAG jeweils eine Erschütterung des Beweiswerts an. Es begründete dies in seiner Entscheidung mit dem Zusammentreffen von zwei ungewöhnlichen Umständen, die jedenfalls in der Gesamtschau zu ernsthaften Zweifeln an dem Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen führten. Zum einen habe eine zeitliche Koinzidenz zwischen der „in den Folgebescheinigungen festgestellten passgenauen Verlängerung der Arbeitsunfähigkeit und der Kündigungsfrist“ vorgelegen, die Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers habe also über die gesamte Kündigungsfrist hinweg angedauert. Zum anderen sei der Arbeitnehmer anschließend pünktlich zum Antritt einer neuen Beschäftigung – und dies gerade nahtlos mitten in der Woche nach Ablauf der Kündigungsfrist – wieder genesen gewesen. Das BAG betont, dass diese Umstände unverfänglich sein mögen, sofern man diese jeweils gesondert betrachtet. In der Gesamtschau führe dies aber hier zu einer Erschütterung des Beweiswerts der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen ab 07.05.2022.

Der Fünfte Senat des BAG sprach dem Arbeitnehmer daraufhin nur die Entgeltfortzahlung für den Zeitraum der Erstbescheinigung vom 02.05. bis 06.05.2022 zu. Zudem wies er darauf hin, dass es sogar denkbar sei, dass auch dieser Anspruch im Einzelfall ausscheiden kann, wenn der Arbeitnehmer schon vor erstmaliger Krankmeldung Kenntnis von der geplanten arbeitgeberseitigen Kündigung gehabt hätte – beispielsweise durch vorherige Betriebsratsanhörung nach § 102 Abs. 2 S. 4 BetrVG. Das BAG stellte auch klar, dass unerheblich sei, ob eine oder mehrere Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen für die Dauer der Kündigungsfrist vorlägen. Dies ergebe sich bereits aus § 5 Abs. 4 S. 1 der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie (a.F.).

Das BAG machte somit deutlich, dass es seine Rechtsprechung zur zeitlichen Koinzidenz von Arbeitsunfähigkeit und Kündigung nun auch auf arbeitgeberseitige Kündigungen anwendet. Die ernsthaften Zweifel an der bescheinigten Arbeitsunfähigkeit gründen in dem Umstand, dass der Arbeitnehmer zu einem Zeitpunkt, zu dem feststand, dass das Arbeitsverhältnis enden soll, arbeitsunfähig wird und bis zum Ablauf der Kündigungsfrist bleibt. Die Entscheidung zeigt jedoch auch, dass die Erschütterung des Beweiswerts einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung von den Umständen des Einzelfalls abhängt, sodass weiterhin eine Gesamtschau möglicher „ungewöhnlicher Umstände“ bzw. eine Gesamtwürdigung vorzunehmen ist.

 

Weiterhin hohe Hürden für Arbeitgeber

Hinweis: Einer ordnungsgemäß ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung kommt ein hoher Beweiswert zu. Sie begründet im Prozess aber keine gesetzliche Vermutung einer tatsächlich bestehenden Arbeitsunfähigkeit i.S.d. § 292 ZPO. Daher muss der Arbeitgeber im Prozess nicht das Gegenteil beweisen. Vielmehr wird Arbeitgebern die Möglichkeit gegeben, den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung durch Tatsachen zu erschüttern. Arbeitgeber werden in der Praxis vor die schwierige Situation gestellt, dass sie keine Kenntnis von den Krankheitsursachen des Arbeitnehmers haben und daher vor Gericht nur eingeschränkt Indiz-Tatsachen zur Erschütterung des Beweiswerts einer Arbeitsunfähigkeit vortragen können. Wenn dies dem Arbeitgeber gelingt, ist es Sache des Arbeitnehmers, wieder konkrete Tatsachen darzulegen und gegebenenfalls zu beweisen, die den Schluss auf eine bestehende Erkrankung zulassen.

Wie bereits der im Heft 01.2024 erschienene Beitrag zur Entscheidung des BAG vom 28.06.2023 – 5 AZR 335/22 zeigt (vgl. Versorgungswirtschaft Nr. 01.2024, S. 22), häufen sich die höchstrichterlichen Entscheidungen zur Thematik der Erschütterung des Beweiswerts von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen in den letzten Jahren. Dies ist aus Arbeitgebersicht angesichts der hohen Praxisrelevanz zu begrüßen. Im Gegensatz zur Entscheidung des BAG vom 28.06.2023 betraf der vorliegende Sachverhalt aber die passgenaue zeitliche Koinzidenz von Kündigung und Arbeitsunfähigkeit. Hinzu kamen vorliegend weitere Umstände, die nach der Rechtsprechung jedenfalls in der Gesamtschau kumulativ dazu geeignet sind, den Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu erschüttern.

Auch wenn das BAG hier ausdrücklich von einer Einzelfallentscheidung spricht, führt es seine Rechtsprechung von 2021 somit fort, wonach der Beweiswert von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen durch den Vortrag ernsthafter Zweifel erschüttert werden kann. Zudem ist durch die höchstrichterliche Rechtsprechung nun klargestellt, dass es dabei keinen Unterschied macht, ob die Kündigung durch Arbeitnehmer oder Arbeitgeber erfolgt.

 

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