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Verfall von Urlaubsansprüchen bei Langzeiterkrankung und Verletzung der Hinweisobliegenheit des Arbeitgebers

von Sabrina Marquardt

Sachverhalt: Gegenstand des Rechtsstreits ist der Fortbestand von Resturlaubsansprüchen des Klägers aus dem Jahr 2014. Der Kläger war in der Zeit vom 1. Dezember 2014 bis jedenfalls August 2019 vorübergehend voll erwerbsgemindert. In dieser Zeit hat der Kläger seine Arbeitsleistung nicht erbracht und seinen Urlaub nicht nehmen können. Hinsichtlich seines Resturlaubsanspruchs aus 2014 in Höhe von 24 Arbeitstagen vertritt der Kläger die Auffassung, dass der Urlaub trotz seiner Langzeiterkrankung nicht verfallen sei, da die Beklagte ihren Mitwirkungsobliegenheiten bei der Gewährung und Inanspruchnahme von Urlaub nicht nachgekommen sei. Demgegenüber hat die Beklagte geltend gemacht, dass der Urlaub des Klägers aus 2014 infolge der 15-Monats-Rechtsprechung des BAG zwischenzeitlich wegen seiner fortdauernden Erwerbsminderung verfallen sei.

Entscheidung: Nachdem das LAG Hessen die Klage abgewiesen hatte, stellt das BAG in seinem Urteil vom 20.12.2022 (Az: 9 AZR 245/19) fest, dass dem Kläger die restlichen 24 Tage Urlaub aus dem Jahr 2014 weiterhin zustehen. Zuvor hatte das BAG die Sache zur Vorabentscheidung an den EuGH vorgelegt. Gegenstand des Vorabentscheidungsersuchens war die Frage, ob das Unionsrecht das Erlöschen des Urlaubsanspruchs bei einer ununterbrochen fortbestehenden Erkrankung des Arbeitnehmers 15 Monate nach Ablauf des Urlaubsjahres oder einer längeren Frist auch dann gestattet, wenn der Arbeitgeber im Urlaubsjahr seine Mitwirkungsobliegenheiten nicht erfüllt hat, obwohl der Arbeitnehmer den Urlaub bis zum Eintritt der Arbeitsunfähigkeit zumindest teilweise hätte nehmen können.

Es ging bei dem Vorabentscheidungsersuchen des BAG also im Wesentlichen um die Frage, wie sich die Entscheidung des EuGH zur Vermeidung der unbegrenzten Ansammlung von Urlaubsansprüchen durch die Möglichkeit des Erlöschens nach Ablauf eines Übertragungszeitraums von 15 Monaten (EuGH Urteil vom 22. 11. 2011 − C-214/10) zu der Entscheidung des EuGH hinsichtlich der Hinweisobliegenheiten des Arbeitgebers bei Inanspruchnahme und Verfall von Urlaub (EuGH Urteil vom 6.11.2018 – C-684/16) verhält. Vorliegend hatte die Beklagte den Kläger weder aufgefordert, den Urlaub zu nehmen, noch darauf hingewiesen, dass nicht genommener Urlaub am Ende des Kalenderjahres oder eines Übertragungszeitraumes gemäß § 7 Abs. 3 BurlG verfällt. Der EuGH hat sich in seinem Urteil vom 22.09.2022 (Az. C-518/20) klar zu Gunsten der Hinweisobliegenheit positioniert und entschieden, dass nationale Regelungen, nach denen Urlaub aus Jahren, in deren Verlauf Arbeitnehmer tatsächlich gearbeitet haben, bevor sie voll erwerbsgemindert oder dauerhaft arbeitsunfähig wurden, nach Ablauf eines Übertragungszeitraums (wie hier 15 Monate) auch dann verfällt, wenn der Arbeitgeber seine Hinweisobliegenheiten nicht erfüllt hat, gegen Art. 7 der Arbeitszeitrichtlinie (RL 2003/88/EG) und Art. 31 Abs. 2 GRCh verstoßen.

Es war daher zu erwarten, dass das BAG in seinem Urteil vom 20.12.2022 die Vorgaben des EuGH aus dem Vorabentscheidungsverfahren umsetzen und seine bisherige Rechtsprechung zum Verfall von Urlaub bei Langzeiterkrankungen weiterentwickeln wird. Das BAG arbeitet in seiner Entscheidung vom 20.12.2022 heraus, dass die gesetzlichen Urlaubsansprüche bei fortdauernder Arbeitsunfähigkeit weiterhin nach Ablauf der 15-Monatsfrist erlöschen, wenn der Arbeitnehmer seit Beginn des Urlaubsjahres durchgehend bis zum 31. März des zweiten Folgejahres aus gesundheitlichen Gründen daran gehindert war, den Urlaub anzutreten. In dieser Fallkonstellation kommt es laut BAG nicht auf eine Erfüllung der Mitwirkungsobliegenheiten durch den Arbeitgeber an, da diese nicht zur Inanspruchnahme des Urlaubs hätten beitragen können. Es seien dann nicht Handlungen oder Unterlassungen des Arbeitgebers, sondern allein die Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers für den Verfall des Urlaubs kausal.

Sollte jedoch der Arbeitnehmer, wie vorliegend der Kläger, in dem Urlaubsjahr tatsächlich gearbeitet haben, bevor er voll erwerbsgemindert oder dauerhaft arbeitsunfähig geworden ist, setzt der Verfall des Urlaubsanspruchs nach Ablauf der 15-Monatsfrist regelmäßig voraus, dass der Arbeitgeber gegenüber dem Arbeitnehmer rechtzeitig seine Hinweisobliegenheiten erfüllt und ihn so in die Lage versetzt hat, seinen Urlaub auch tatsächlich zu nehmen. In dieser Fallkonstellation treffe den Arbeitgeber grundsätzlich die Initiativlast bei der Verwirklichung des Urlaubsanspruchs gemäß § 7 Abs. 1 S. 1 BurlG und erst die Erfüllung der daraus abgeleiteten Mitwirkungsobliegenheiten führten zur Befristung des Urlaubsanspruchs nach § 7 Abs. 3 BurlG. Die Beklagte hatte vorliegend ihre Mitwirkungsobliegenheiten nicht bis zum Eintritt der Erwerbsminderung des Klägers am 01.12.2014 erfüllt. Der Urlaub des Klägers aus 2014 im Umfang von 24 Tagen war deshalb nicht allein wegen des Ablaufs der 15-Monatsfrist verfallen.

Hinweis: Bei der Beurteilung des Verfalls von Urlaub bei Langzeiterkrankten oder voll erwerbsgeminderten Arbeitnehmern kann nicht mehr undifferenziert auf die bisherige BAG-Rechtsprechung zur 15-Monatsfrist zurückgegriffen werden. Vielmehr sind künftig zwei Varianten zu unterscheiden. Urlaubstage aus Urlaubsjahren, während derer der Arbeitnehmer dauerhaft arbeitsunfähig oder voll erwerbsgemindert war, verfallen nach wie vor nach Ablauf von 15 Monaten ab Ende des Urlaubsjahres. Auf die Erfüllung der Mitwirkungsobliegenheiten durch den Arbeitgeber kommt es nicht an. Urlaubstage aus Urlaubsjahren, während derer der Arbeitnehmer vor Eintritt der Arbeitsunfähigkeit oder vollen Erwerbsminderung tatsächlich gearbeitet hat, verfallen hingegen nur dann nach Ablauf von 15 Monaten ab Ende des Urlaubsjahres, wenn die Mitwirkungsobliegenheiten rechtzeitig vor Eintritt der Arbeitsunfähigkeit erfüllt wurden.

In einer weiteren Entscheidung des BAG vom 31.01.2023 – 9 AZR 107/20 zu einer Sachverhaltskonstellation, in welcher die Arbeitsunfähigkeit bereits früh im Urlaubsjahr am 18.01.2016 eintrat, grenzt das BAG weiter ein, dass der Arbeitgeber das Risiko, dass der Urlaub wegen einer im Urlaubsjahr eintretenden Krankheit nicht erfüllt werden kann, nur zu tragen hat, soweit er im Urlaubsjahr tatsächlich die Zeit hatte, seinen Obliegenheiten nachzukommen. Erkrankt der Arbeitnehmer also zu einem so frühen Zeitpunkt im Urlaubsjahr dauerhaft, dass er selbst bei ordnungsgemäßer Aufklärung durch den Arbeitgeber seinen Urlaub nicht vollständig hätte nehmen können, bleibt ihm nach Ablauf der 15 Monatsfrist nur die Anzahl an Urlaubstagen erhalten, die unter Berücksichtigung der tatsächlichen Möglichkeit des Arbeitgebers, seinen Mitwirkungsobliegenheiten nachzukommen, bis zum Eintritt seiner Erkrankung erfüllt werden konnte.

Das BAG stellt aber auch klar, dass der Arbeitgeber mit Entstehung des Urlaubsanspruchs seinen Hinweisobliegenheiten im Zusammenhang mit der Inanspruchnahme des Urlaubs unverzüglich gemäß § 121 Abs. 1 Satz 1 BGB nachkommen muss, um nicht das Risiko zu tragen, dass Urlaub wegen einer im Verlauf des Urlaubsjahres eintretenden krankheitsbedingten Erkrankung des Arbeitnehmers nicht am Ende von 15 Monaten erlischt. Als unverzüglich sieht das BAG unter normalen Umständen eine Zeitspanne von einer (Urlaubs-)Woche, d.h. in Anlehnung an § 3 BUrlG sechs Werktage, an. Ohne Vorliegen besonderer Umstände (wie z.B. Betriebsferien zu Jahresbeginn) handelt der Arbeitgeber nicht unverzüglich, wenn er seine Mitwirkungsobliegenheiten erst später als eine Woche nach Urlaubsentstehung erfüllt.

In jedem Fall empfiehlt sich angesichts der klaren Vorgaben des BAG, die nötigen Hinweise zur Inanspruchnahme und Verfall von Urlaub bereits in der ersten Kalenderwoche eines jeden Kalenderjahres zu erteilen. Dies gilt umso mehr als Urlaubsansprüche bei unterlassenem Hinweis des Arbeitgebers entsprechend des Urteils des EuGH vom 22.09.2022 – C-120/21 nicht verjähren und daher vom Arbeitnehmer auch noch Jahre später geltend gemacht werden können.

 

 

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