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Entschädigung bei Nichterfüllung von Verfahrens- und Förderpflichten zugunsten schwerbehinderter Menschen

BAG v. 14.06.2023 – 8 AZR 136/22

 

Das Neunte Buch des Sozialgesetzbuches (SGB IX) stellt zum Schutz schwerbehinderter Menschen eine Reihe von Verfahrens–und Förderpflichten bei der Besetzung von Arbeitsplätzen auf. Dies gilt auch für das Bewerbungsverfahren. Da vorab in der Regel nicht bekannt ist, ob sich ein schwerbehinderter Mensch für die betreffende Stelle bewirbt, sind diese Pflichten vorsorglich bei jeder Stellenbesetzung zu erfüllen. Zu beachten sind die Verfahrens- und Förderpflichten mitunter bereits bei der Stellenprofilierung. Sie umfassen die frühzeitige Einschaltung der Agentur für Arbeit in Form eines sog. betreuten Vermittlungsauftrags (die Veröffentlichung des Stellenangebots über die Jobbörse der Bundesagentur für Arbeit genügt hierfür nicht) und – sofern vorhanden – die Einbeziehung der Schwerbehindertenvertretung (SBV) und des Betriebsrats (BR). Eingehende Vermittlungsvorschläge und/oder Bewerbungen von schwerbehinderten Menschen sind unmittelbar der SBV und dem BR vorzulegen. Die SBV hat darüber hinaus auch das Recht auf Einsicht in die entscheidungsrelevanten Teile der Bewerbungsunterlagen und auf Teilnahme an Vorstellungsgesprächen. Dieses Recht bezieht sich nach herrschender Rechtsmeinung auf die Unterlagen bzw. das Vorstellungsgespräch nicht nur des schwerbehinderten Menschen, sondern sämtlicher Bewerber. Geregelt sind diese Anforderungen in §§ 164, 178 SGB IX. Eine Verletzung solcher Verfahrens– und Förderpflichten, wie etwa die nicht richtige, nicht vollständige oder nicht rechtzeitige Unterrichtung der SBV oder des BR, kann nicht nur eine bußgeldbewehrte Ordnungswidrigkeit darstellen (§ 238 Abs. 1 Nr. 7 SGB IX). Eine Verletzung führt nach aktueller Rechtsprechung nahezu unvermeidbar auch zu einer Schadensersatz– oder zumindest Entschädigungspflicht gegenüber dem abgelehnten schwerbehinderten Bewerber.

 

Vermutung einer Diskriminierung bei Ablehnung des schwerbehinderten Bewerbers

 

Arbeitgeber dürfen schwerbehinderte Menschen nicht wegen ihrer Behinderung benachteiligen. Eine solche Benachteiligung wegen der Behinderung wird von der Rechtsprechung bereits dann angenommen, wenn die Behinderung ein mitursächliches Motiv für die Ablehnung der Bewerbung ist. Es ist nicht erforderlich, dass die Behinderung das ausschließliche oder auch nur ein wesentliches Motiv für die Ablehnung ist. Der Umstand, dass der Bewerber das Anforderungsprofil für die betreffende Stelle ggf. nicht erfüllt, schließt eine Diskriminierung daher nicht aus. Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (§ 22 AGG) erleichtert dem Bewerber den Nachweis der Mitursächlichkeit dahingehend, dass der abgelehnte Bewerber lediglich ein Indiz für eine solche Mitursächlichkeit darlegen muss, d.h. einen Umstand, der mit überwiegender Wahrscheinlichkeit auf eine Benachteiligung wegen der Behinderung schließen lässt. Es entspricht bereits der ständigen Rechtsprechung des BAG, dass der Verstoß gegen die genannten Verfahrens– und Förderpflichten als ein solches Indiz angesehen wird, und zwar grundsätzlich auch in Fällen, in denen der Verstoß lediglich auf einem Versehen des jeweiligen Sachbearbeiters beruht (vgl. BAG v. 25.11.2021 – 8 AZR 313/20). Der Arbeitgeber kann die Vermutung der Benachteiligung nur widerlegen, indem er den Vollbeweis erbringt, dass die Ablehnung ausschließlich auf anderen Gründen beruhte. Dieser Beweis ist – soweit ersichtlich – noch nie gelungen. Denn die fehlende Eignung des Bewerbers für die Stelle ist bestenfalls der Beweis, dass (ggf. auch) andere Gründe für die Ablehnung vorlagen. Damit ist nicht der Beweis erbracht, dass „ausschließlich“ andere Gründe vorlagen. Die nachweislich fehlende Eignung des Bewerbers ist dann nur noch für die Frage relevant, ob der Arbeitgeber unbegrenzten Schadensersatz (§ 15 Abs. 1 AGG) oder lediglich eine Entschädigung von bis zu drei Bruttomonatsgehältern (§ 15 Abs. 2 AGG) schuldet.

 

Darlegungslast des Arbeitgebers für die Einhaltung der Verfahrens- und Förderpflichten

 

Bislang galt der Grundsatz, dass der Bewerber zumindest das Indiz einer Benachteiligung wegen der Behinderung substantiiert darzulegen hatte (§ 22 AGG). Bloße Behauptungen ins Blaue hinein genügten nicht. Dies hat sich de facto durch die Entscheidung des BAG vom 14.06.2023 (8 AZR 136/22) geändert: Da der Bewerber keinen Einblick in die Verfahrensabläufe des Arbeitgebers habe, genügte der Kläger nach Auffassung des BAG seiner Darlegungslast, indem er auf einer bloßen Vermutung basierend behauptete, dass der Arbeitgeber den bei ihm bestehenden BR nicht entsprechend den Vorgaben des § 164 Abs. 1 S. 4 SGB IX unterrichtet habe. Er sei etwa nicht gehalten gewesen, den Betriebsratsvorsitzenden zu kontaktieren und diesen hierzu zu befragen. Der Kläger sei nach Auffassung des BAG auch im Übrigen nicht gehalten gewesen, tatsächliche Anhaltspunkte für seine bloße Vermutung darzutun. Das BAG behauptet zwar weiterhin, dass Behauptungen „aufs Geratewohl“ oder „ins Blaue hinein“ nicht zulässig seien, senkt die Anforderungen an die Darlegungslast aber so weit ab, dass solche unsubstantiierten Mutmaßungen nunmehr in Bezug auf die Verfahrens– und Förderpflichten doch genügen.

Nach Auffassung des BAG konnte der Arbeitgeber die Vermutung für die Benachteiligung auch nicht widerlegen. Zwar meint das BAG, dass die Vermutung im Einzelfall widerlegt sein könne, wenn dem Bewerber eine formale Qualifikation oder eine formale Anforderung fehle, die unverzichtbare Voraussetzung für die Ausübung der Tätigkeit sei. Als Beispiel nannte das BAG die Anforderungen der Bundesärzteordnung (BÄO) für eine Tätigkeit als Arzt. Der Arbeitgeber suchte dagegen lediglich einen „Scrum Master Energy“ und dem Kläger fehlte es unter anderem an dem in der Stellenausschreibung geforderten Studienabschluss in einem der Studiengänge (Wirtschafts– )Informatik, (Wirtschafts– )Mathematik oder einer vergleichbaren Fachrichtung. Das BAG setzte daher im Ergebnis eine Entschädigung in der Höhe von 1,5 Bruttomonatsgehältern fest.

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Dr. Raimund Lange

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