Betriebsänderung ist ein Begriff, bei dem Betriebsräte hellhörig werden und Arbeitgeber sich für zähe Verhandlungen und strickte Zeitpläne wappnen. Neben der Vorbereitung der individualrechtlichen Umsetzung von z.B. Kündigungen oder Versetzungen müssen Unternehmer einen gewählten Betriebsrat umfassend und rechtzeitig vor der Betriebsänderung über die geplanten Maßnahmen informieren. Danach folgt idealerweise die zügige Einigung mit dem Betriebsrat über einen Interessenausgleich, der das Ob, Wann und Wie der geplanten Maßnahmen regelt (§§ 111, 112 BetrVG). Ein solcher Interessenausgleich kann vom Betriebsrat nicht erzwungen werden. Der Arbeitgeber muss diesen aber mit einem ernsthaften Einigungswillen versuchen; zunächst auf betrieblicher Ebene und wenn sich die Parteien nicht einigen, in der Einigungsstelle. Erst dann kann der Versuch eines Interessenausgleichs endgültig scheitern und der Arbeitgeber die Betriebsänderung umsetzen. Da die Einigungsstelle durch den Arbeitgeber gerichtlich eingesetzt werden muss, wenn sich der Betriebsrat mit der Einsetzung nicht einverstanden erklärt, kann das Interessenausgleichsverfahren auch einige Monate in Anspruch nehmen. Die wesentliche Verhandlungsmacht des Betriebsrats liegt mithin in der Möglichkeit, die Umsetzung der geplanten Maßnahmen zu verzögern, was sich nicht selten auch in den Sozialplanverhandlungen bemerkbar macht – je eiliger es der Arbeitgeber hat, desto höher werden beispielsweise Abfindungszahlungen dotiert. Warum also nicht den – ggf. von vornherein zum Scheitern verurteilten – Versuch des Abschlusses eines Interessenausgleichs trotz gesetzlicher Pflicht einfach unterlassen?
Unterlassungsanspruch des Betriebsrats bis zum Scheitern der Verhandlungen? Das LAG Nürnberg sagt „Nein“
Wirksam und abschreckend sowie definitiv gegen das „Aussparen“ der Beratungen mit dem Betriebsrat sprechend wäre ein Anspruch des Betriebsrats auf Unterlassung der Durchführung der Betriebsänderung, bis das Beteiligungsverfahren im Hinblick auf den Interessenausgleich abgeschlossen ist. Damit könnte der Betriebsrat im Ergebnis im Wege der einstweiligen Verfügung den Ausspruch von Kündigungen oder die Verlagerung von Betriebsmitteln oder Betriebsteilen verhindern. Das LAG Nürnberg (v. 11.04.2024 – 4 TaBVGa 1/24) hatte kürzlich über eine solche einstweilige Verfügung zu entscheiden. Die Arbeitgeberin plante, ca. 160 von 750 Mitarbeitern zu entlassen. Nach Diskussionen über einen Sozialplan und ein Freiwilligenprogramm erhielt der Betriebsrat die Anhörungen zu 24 betriebsbedingten Kündigungen. Er beantragte die einstweilige Unterlassungsverfügung, da die Interessenausgleichsverhandlungen nicht abgeschlossen seien. Das ArbG gab dem Antrag statt. Die Beschwerde der Arbeitgeberin hatte jedoch Erfolg.
Das LAG Nürnberg versagte dem Betriebsrat im Ergebnis einen Anspruch auf Unterlassung. Die Durchführung einer Betriebsänderung gehöre zur wirtschaftlichen Entscheidungskompetenz des Arbeitgebers und sei der Mitbestimmung entzogen. Die Beteiligungsrechte des Betriebsrates in wirtschaftlichen Angelegenheiten seien daher als Informations- und Beratungsrechte ausgestaltet. Bei Verletzung der Beteiligungsrechte des Betriebsrates erhielten die betroffenen Arbeitnehmer einen Nachteilsausgleich nach § 113 BetrVG. Auch das Europarecht (Konsultations-RL 2002/14/EG) fordere keine weitergehenden Unterlassungsansprüche. Die gesetzlich vorgesehenen Sanktionen seien ausreichend.
Ob dieser vom LAG Nürnberg verneinte Unterlassungsanspruch besteht, ist jedoch hoch umstritten und wird von den Arbeitsgerichten und Landesarbeitsgerichten seit Jahren uneinheitlich entschieden. Da der Unterlassungsanspruch wie im oben beschriebenen Fall typischerweise im einstweiligen Verfügungsverfahren geltend gemacht wird, welches auf zwei Instanzen begrenzt ist, ist die Frage durch das BAG nicht geklärt. Aktuell sind nach wie vor einige Landesarbeitsgerichte (z.B. Frankfurt, Hamburg, Hamm, Thüringen, Berlin-Brandenburg, Schleswig-Holstein, Hessen, Düsseldorf, Niedersachsen) der Ansicht, dass eine einstweilige Unterlassungsverfügung erlassen werden kann, wenn eine geplante Betriebsänderung ohne Beteiligung des Betriebsrats durchgeführt wird. Die Landesarbeitsgerichte Köln, Baden-Württemberg, Schleswig-Holstein, Niedersachsen, München, Sachsen-Anhalt und Rheinland-Pfalz gehen zwar derzeit, wie das LAG Nürnberg, davon aus, dass ein Unterlassungsanspruch nicht besteht. Nachdem sich die Arbeitsgerichte innerhalb der Gerichtsbezirke nicht alle an die Rechtsprechung des jeweiligen Landesarbeitsgerichts halten und sich die Richter teilweise auch innerhalb eines Landesarbeitsgerichts nicht einig sind, ist dieser aktuelle Stand sowie die Entscheidung des LAG Nürnberg allerdings mit höchster Vorsicht zu genießen und kann sich jederzeit ändern.
Weitere Konsequenzen bei Verletzung der Verhandlungspflicht
Unabhängig von dem (trotz der Entscheidung des LAG-Nürnberg) stets drohenden Unterlassungsanspruch des Betriebsrats, riskieren Arbeitgeber, die die Betriebsänderung ohne Interessenausgleichsversuch umsetzen, unter anderem Widersprüche des Betriebsrats gegen geplante Kündigungen, die bei späteren Kündigungsschutzklagen zu Weiterbeschäftigungsansprüchen der Mitarbeiter bis zum rechtskräftigen Abschluss der Verfahren und damit zu einer erheblichen finanziellen Mehrbelastung führen können. Darüber hinaus stellt die Umsetzung einer Betriebsänderung ohne jede Beteiligung des Betriebsrats eine Ordnungswidrigkeit dar. Auf individualrechtlicher Ebene sind die Konsequenzen weniger einschlagend. So führt die Verletzung des Verhandlungsanspruchs nicht zur Unzulässigkeit geplanter oder Unwirksamkeit bereits durchgeführter Maßnahmen, wie z.B. Kündigungen oder Versetzungen. Auch der vom LAG Nürnberg erwähnte Anspruch auf Nachteilsausgleich (i.d.R. handelt es sich um Abfindungsansprüche) der betroffenen Arbeitnehmer gem. § 113 BetrVG ist meist nicht abschreckend, da der erzwingbare Sozialplan regelmäßig ohnehin Abfindungsansprüche vorsieht, die mindestens so hoch wie Nachteilsausgleichsansprüche und diesen verrechenbar sind.
Praktischer und rechtlicher Nutzen des Interessenausgleichs für den Arbeitgeber, insbesondere bei (Massen)Entlassungen
Unabhängig von den Konsequenzen der Unterlassung des Einigungsversuchs, kann ein Interessenausgleich auch für Arbeitgeber extrem vorteilhaft sein. Zunächst zwingt die Vorbereitung des Entwurfs, der vor dem ersten Verhandlungstag mit dem Betriebsrat stehen sollte, zu einer sauberen Planung der einzelnen zur Umsetzung der Maßnahme erforderlichen Schritte sowie deren zeitlicher Dauer und Abfolge. Rein praktisch wird hier oft erstmalig klar, an welchen Stellen die Umsetzung auf individualrechtlicher Ebene Schwierigkeiten bereiten kann. Die Ausarbeitung des Entwurfs stellt so eine effektive Methode der Selbstkontrolle für Arbeitgeber dar. Ist es dann geschafft und der Interessenausgleich unterzeichnet, steht damit im Übrigen (idealerweise) eine gute Zusammenfassung der Ist- und Zielstruktur sowie der dafür erforderlichen – durch den Betriebsrat abgesegneten – einzelnen Maßnahmen, die Arbeitgeber in späteren Gerichtsprozessen als Grundlage zur Argumentation verwenden können.
Zur Rechtfertigung betriebsbedingter Kündigungen im Rahmen einer Betriebsänderung geht die Wirkung eines Interessenausgleichs in einem bestimmten Fall zudem über die rein praktischen Aspekte hinaus: Ein Interessenausgleich, der diejenigen Mitarbeiter namentlich nennt, die aufgrund der Betriebsänderung gekündigt werden müssen (sog. Interessenausgleich mit Namensliste), führt zur gesetzlichen Vermutung, dass diese Kündigungen durch dringende betriebliche Erfordernisse im Sinne von § 1 Abs. 2 KSchG bedingt sind (§ 1 Abs. 5 S. 1 KSchG). Außerdem kann die vom Arbeitgeber vorgenommene Auswahl der Arbeitnehmer nach sozialen Gesichtspunkten (Sozialauswahl) bei Vorliegen einer Namensliste von einem Arbeitsgericht nur auf grobe Fehlerhaftigkeit überprüft werden. Diese Folgen erleichtern Arbeitgebern das Führen anstehender Kündigungsschutzprozesse enorm. Darüber hinaus erspart sich der Arbeitgeber, deren Entlassungen anzeigepflichtig sind (§ 17 Abs. 1 KSchG), einen bürokratischen Hürdenlauf, wenn er der Arbeitsagentur einen mit dem Betriebsrat vereinbarten Interessenausgleich mit Namensliste vorlegen kann. Ein solcher Interessenausgleich ersetzt nämlich die ansonsten bei der Arbeitsagentur vorzuweisende Stellungnahme des Betriebsrates zu den geplanten Entlassungen (§ 1 Abs. 5 S. 4 KSchG).
Bei der Frage, ob ein Einigungsversuch zum Abschluss eines Interessenausgleichs gestartet wird, sollten sich Arbeitgeber schließlich nicht nur auf die Auswirkungen, die ein Unterlassen (nicht) zur Folge haben kann, konzentrieren. Dass es in Vorbereitung vieler Betriebsänderungen, insbesondere in Verbindung mit erheblichem Personalabbau, zum Abschluss eines Interessenausgleichs kommt, hat oft andere Gründe.