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Mitwirkungsobliegenheit des Arbeitgebers beim Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen

von Katharina Kanne

Sachverhalt: Die Parteien streiten über die Abgeltung von Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen aus den Jahren 2016 bis 2018. Der Kläger war seit dem 22.08.2016 bei der Beklagten beschäftigt und ist seit Oktober 2014 als schwerbehinderter Mensch mit einem Grad der Behinderung von 50 anerkannt.

Die Beklagte hat den Kläger während des laufenden Arbeitsverhältnisses nicht aufgefordert, Urlaub zu nehmen, oder ihn darauf hingewiesen, dass nicht beantragter Urlaub mit Ablauf des Kalenderjahres oder Übertragungszeitraums verfallen kann. Das Arbeitsverhältnis endete durch Eigenkündigung des Klägers zum 15.02.2019. Mit Schreiben vom 23.01.2019 beantragte der Kläger erfolglos die Gewährung von zwölf Arbeitstagen Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen. Dem Urlaubsantrag fügte der Kläger eine Kopie seines Schwerbehindertenausweises bei.

Nachdem das Arbeitsgericht der Klage auf finanzielle Abgeltung des Zusatzurlaubs stattgegeben hatte, wies das Landesarbeitsgericht (LAG) die Klage ab. Die Revision des Klägers hatte Erfolg und führte zur Zurückweisung an das LAG.

Entscheidung: Das Bundesarbeitsgericht (BAG, Urteil vom 30.11.2021 – 9 AZR 143/21 ) stellte zunächst grundlegend fest, dass der Anspruch schwerbehinderter Menschen auf Zusatzurlaub nach § 208 Abs. 1 Satz 1 SGB IX zwar nicht den unionsrechtlichen Vorgaben unterliegt, jedoch die Vorschriften für den gesetzlichen Mindesturlaub des Bundesurlaubsgesetzes anzuwenden sind. Insofern setzt die Befristung des Anspruchs auf Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen genauso wie der Verfall des gesetzlichen Mindesturlaubs, grundsätzlich voraus, dass der Arbeitgeber seinen Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten nachkommt. Da für das Bestehen der Mitwirkungsobliegenheiten des Arbeitgebers grundsätzlich die objektive Rechtslage maßgeblich ist, hat der Arbeitgeber, wenn die tatbestandlichen Voraussetzungen des Anspruchs auf Zusatzurlaub gemäß § 208 Abs. 1 Satz 1 SGB IX erfüllt sind, an der Verwirklichung des Anspruchs mitzuwirken. Dies gilt jedoch dann nicht, wenn es dem Arbeitgeber unmöglich war, den Arbeitnehmer durch seine Mitwirkung in die Lage zu versetzen, den Anspruch zu realisieren. Hat der Arbeitgeber keine Kenntnis von der Schwerbehinderung des Arbeitnehmers und ist diese auch nicht offenkundig, verfällt der Zusatzurlaub auch dann mit Ablauf des Urlaubsjahres oder eines zulässigen Übertragungszeitraums, wenn der Arbeitgeber seinen Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten nicht nachgekommen ist.

Hinsichtlich der Beweislast stellt das BAG fest, dass der Arbeitgeber seine Unkenntnis von der Schwerbehinderung des Arbeitnehmers darlegen und beweisen muss. Hierbei kommen ihm jedoch die Grundsätze der abgestuften Darlegungs- und Beweislast zu Gute: Der Arbeitnehmer hat unter Benennung der ihm zur Verfügung stehenden Beweismittel konkret vorzutragen, auf welche Weise er den Arbeitgeber von seiner Schwerbehinderteneigenschaft in Kenntnis gesetzt hat, oder Umstände zu benennen, aus denen auf die Kenntnis des Arbeitgebers geschlossen werden kann, wobei ein Vortrag „ins Blaue hinein“ nicht ausreichend ist. Da sich aus den bisherigen Feststellungen des LAG nicht ergeben hatte, ob der Kläger dieser sekundären Beweislast genügt, wurde das Verfahren zur weiteren Aufklärung an das LAG zurückgewiesen.

Hinweis: Das BAG führt seine Rechtsprechung zu Hinweis- und Mitwirkungsobliegenheiten des Arbeitgebers bei der Realisierung von Urlaubsansprüchen der Arbeitnehmer fort. Im vorliegenden Fall hatte der Arbeitgeber keinerlei Hinweise zum möglichen Verfall von nicht beantragtem Urlaub mit Ablauf des Kalenderjahres oder eines etwaigen Übertragungszeitraums erteilt. Im Hinblick auf den Zusatzurlaub gemäß § 208 Abs. 1 Satz 1 SGB IX kommt es nun auf die (Un-)Kenntnis des Arbeitgebers von der Schwerbehinderteneigenschaft des Arbeitnehmers und die Darlegungs- und Beweislast im Prozess an. Ein solcher „Rettungsanker“ steht dem Arbeitgeber bei der Frage der ordnungsgemäßen Erfüllung von Hinweis- und Mitwirkungsobliegenheiten bei nicht schwerbehinderten Arbeitnehmern nicht zur Verfügung.

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