Erneute Arbeitsunfähigkeit kann nochmaliges betriebliches Eingliederungsmanagement erfordern
16.03.2022
Mitwirkungsobliegenheit des Arbeitgebers beim Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen
24.05.2022

Vermutung einer Benachteiligung bei Fehlen einer ordnungsgemäßen Stellenausschreibung

von Dr. Daniel Holler

Sachverhalt: Die Parteien stritten über eine Entschädigungszahlung nach § 15 Abs. 2 AGG. Im November 2017 veröffentlichte die Beklagte, ein Landkreis, über die Jobbörse der Bundesagentur für Arbeit ein Stellenangebot als „Amtsleiter/in Rechts- und Kommunalamt (Jurist/in)“. In der Stellenbeschreibung hieß es u.a., dass das Aufgabengebiet die Leitung des Rechts- und Kommunalamts umfasse, und dass ein abgeschlossenes weiterführendes wissenschaftliches Hochschulstudium (Master oder gleichwertiger Abschluss) in der Fachrichtung Rechtswissenschaften bzw. 2. Juristisches Staatsexamen sowie mehrjährige einschlägige Berufs- und Führungserfahrung, vorzugsweise in einer vergleichbaren Führungsposition hinsichtlich der Führungsspanne und des Aufgabenbereichs, im kommunalen Bereich erwartet würden. In der weiteren Beschreibung des Stellenangebots war die Führungserfahrung mit einer Dauer von “zwei bis fünf Jahren” und die Personalverantwortung mit “zehn bis 49 Mitarbeitern/innen” konkretisiert worden. Der schwerbehinderte Kläger, Grad der Behinderung 50, bewarb sich noch im November 2017 unter Angabe seiner Schwerbehinderung auf die ausgeschriebene Stelle. Der Kläger war vor seinem Referendariat als gelernter Industriekaufmann zunächst als TV-Redakteur, Künstler-Manager und Immobilienmakler tätig. Nach seinem Referendariat hatte der Kläger nur ein Jahr lang als Rechtsanwalt praktiziert. Zu einem Vorstellungsgespräch wurde er – aufgrund “offensichtlich fachlicher Ungeeignetheit” – nicht eingeladen. Mit Schreiben vom 11.4.2018 wurde ihm mitgeteilt, dass sich der beklagte Landkreis für einen anderen Bewerber entschieden habe. Daraufhin wandte sich der Kläger mit Schreiben vom 14.4.2018 unter dem Betreff „Beschwerde nach § 13 AGG und Entschädigungsanspruch nach § 15 II AGG“ an den beklagten Landkreis. Er beanstandete, als schwerbehinderter Bewerber bereits im Vorverfahren des Bewerbungsverfahrens nicht berücksichtigt worden zu sein. Zudem machte der Kläger erfolglos einen Anspruch auf Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG geltend. Eine Antwort erhielt der Kläger daraufhin nicht. Mit seiner Klage machte der Kläger einen Anspruch auf Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG geltend. Sowohl das ArbG Dresden (vom 28.11.2018, 1 Ca 1034/18) als auch das LAG Sachsen (vom 11.3.2020, Az.: 5 Sa 414/18) wiesen die Klage ab. Der Kläger erfülle offensichtlich nicht die im Anforderungsprofil der Beklagten genannten Anforderungen für die ausgeschriebene Position des Rechtsamtsleiters. Der Kläger verfüge nicht über eine mehrjährige einschlägige Berufserfahrung. Auch stelle die Nichtbeantwortung einer entsprechenden Beschwerde eines Stellenbewerbers durch den Arbeitgeber kein Indiz für ein diskriminierendes Verhalten dar.

Entscheidung: Das BAG (Urteil vom 25. November 2021 – 8 AZR 313/20) gab der Klage indes statt – wobei ein ganz anderer Punkt hier den Ausschlag gab. Die Beklagte hatte nämlich die zu vergebende Stelle nicht der zuständigen Agentur für Arbeit gemeldet, wie dies durch § 165 Satz 1 SGB IX vorgeschrieben ist. Die Veröffentlichung des Stellenangebots über die Jobbörse der Bundesagentur für Arbeit reicht für die Meldung der Stelle im Sinne des Gesetzes nicht aus. Sie stellt keine Meldung iSv. § 165 Satz 1 SGB IX dar. Bei § 165 SGB IX geht es nicht um die allg. Veröffentlichung des Jobangebots auf einer entsprechenden Plattform, sondern mit der Mitteilung gegenüber der BA soll es zur Anbahnung eines betreuten Vermittlungsauftrags (§ 35 SGB III) kommen. Auf diese Weise soll der Sachverstand der Bundesagentur genutzt werden, weil dieser entsprechende Fördermöglichkeiten für schwerbehinderte arbeitslose Menschen (zB nach §§ 90, 112 ff. SGB III) bekannt sind.

Die Unterlassung der genannten Verfahrenspflicht zugunsten Schwerbehinderter begründe die Vermutung, dass die Beklagte den Kläger wegen seiner Schwerbehinderung benachteiligt habe. Die Vermutung konnte die Beklagte im Verfahren nicht entkräften. Die Beklagte konnte sich auch nicht auf eine offensichtlich fehlende fachliche Eignung (§ 165 S. 4 SGB IX) berufen, da die Beklagte in diesem Fall nur von ihrer Verpflichtung befreit worden wäre, den schwerbehinderten Kläger zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen (§ 165 S. 3 SGB IX), nicht jedoch von ihrer Meldeverpflichtung gem. § 165 S. 1 SGB IX.

Daher schuldet sie dem Kläger die Zahlung einer angemessenen Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG. Das BAG setzt hier einen Faktor von 1,5 Bruttomonatsgehältern an. Ob weitere Verstöße gegen die Verfahrens- und Förderpflichten zugunsten schwerbehinderter Menschen vorlagen, musste das BAG insofern nicht mehr abschließend prüfen. So ließ das BAG etwa offen, ob ein Indiz nach § 22 AGG für eine Benachteiligung des Klägers darin liegt, dass er auf seine Beschwerde gegen die Berücksichtigung eines Konkurrenten keine Antwort mehr erhalten hatte. Recht ausführlich – ohne eine abschließende Antwort zu formulieren – beschäftigt sich der Senat mit der Frage, ob bereits eine unmittelbare Benachteiligung darauf gestützt werden könnte, dass die Beklagte die Schwerbehindertenvertretung und den Personalrat nicht unmittelbar nach Eingang der Bewerbung unterrichtet hat (§ 164 Abs. 1 S. 4 SGB IX).

Hinweis: Die Entscheidung des Senats zeigt, dass der öffentliche Arbeitgeber bei der Stellenausschreibung besonderes Augenmerk auf potenzielle schwerbehinderte Bewerber und die sich daraus ergebenden gesetzlichen Verfahrens- und/oder Förderpflichten legen muss. Dass sich das BAG nicht mit der Frage befasst hat, ob der Kläger tatsächlich fachlich offensichtlich ungeeignet war iSv. § 165 S. 4 SGB IX, zeigt, dass allein der Verfahrensfehler ausreicht, um eine Entschädigungspflicht nach § 15 Abs. 2 AGG auszulösen. Arbeitgeber haben deshalb auf ein ordnungsgemäßes – diskriminierungsfreies – Stellenausschreibungsverfahren nach §§ 164, 165 SGB IX besonders zu achten, wollen sie sich nicht der Gefahr von Entschädigungsforderungen aussetzen.

In dem Urteil kommt zudem der Straf- bzw. Abschreckungscharakter des Entschädigungsanspruchs voll zum Tragen. Der Arbeitgeber hatte sich – wie die Vorinstanzen – nicht darauf stützen können, dass der schwerbehinderte Bewerber fachlich offensichtlich ungeeignet gewesen ist und deshalb eine Einladung zum Vorstellungsgespräch sowieso nicht in Betracht gekommen wäre. Solche Kausalitätserwägungen tragen den Entschädigungsanspruch nicht. Ein Versagen des Entschädigungsanspruchs kommt nach der bisherigen Rechtsprechung des EuGH nur in Ausnahmefällen in Betracht (EuGH, Urteil vom 28.7.2016 – C-423/15).

Alle Anwälte