Für uns Arbeitsrechtler ist es an sich schon eine Sensation, wenn sich das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) nach langer Zeit mal wieder auf unserem Spielfeld zeigt und dann noch mit einer solchen Entscheidung. Einer Entscheidung, in der es unserem eigentlichen Oberschiedsrichter, dem Bundesarbeitsgericht (BAG), aufzeigt, dass dieses zu weitgehend in das gegenseitige und verfassungsrechtlich garantierte Kräftemessen der Tarifparteien eingreift. Die Pressemitteilung des BVerfG – die seit dem 19. Februar 2025 vorliegt – tituliert nicht nur die unzureichende Beachtung der Tarifautonomie durch das BAG erfreulich klar, sondern zeigt auch auf, dass das BAG die Tarifautonomie und die Koalitionsfreiheit der Tarifparteien auch auf der Rechtsfolgenseite nicht einfach durch eine gerichtliche „Anpassung nach oben“ übergriffig übergehen darf. Wir als Tarifrechtler freuen uns über die wiedererlangte (Gestaltungs-)Freiheit und schauen uns mit Ihnen gerne an, was passiert ist und was wir daraus machen können.
Anlass der Beanstandung: Unterschiedlich hohe Zuschläge für Nachtarbeit und Nachtschichtarbeit
Den Anlass zur Beanstandung lieferten zwei namhafte Unternehmen der Lebensmittelindustrie, die mit der ihr gegenüberstehenden Gewerkschaft für Nahrungsmittel und Genuss (NGG) jeweils Haustarifverträge abgeschlossen hatten. Einer deren Regelungsinhalte war die unterschiedliche Behandlung von Nachtarbeit und Nachtschichtarbeit. Während für Nachtarbeit ein Zuschlag von 50% vorgesehen war, erhielt die Nachtschicht nur 25%. Dazu muss man wissen, dass (unregelmäßige) Nachtarbeit schwerer planbar ist als (schichtplangemäße) Nachtschichtarbeit und deshalb als zusätzliche Belastung gewertet wird. Mitarbeiter, die dauerhaft in der Nachtschicht arbeiten, profitieren hingegen von anderen Vorteilen wie bezahlten Pausen, zusätzlichen freien Tagen sowie von einer Aufsummierung verschiedener Zuschläge. Aspekte der Versteuerung sowie die Erwägung, dass die Beschäftigten durch den erhöhten Zuschlag zur Erbringung von Nachtarbeit motiviert werden können, dürften ebenfalls nicht unerheblich sein. Auf Nachtarbeit wird zudem nur in wenigen Fällen zurückgegriffen. Das Groß der Arbeit ist durch die geplante Nachtschichtarbeit regelmäßig abgedeckt.
In der Nacht sind alle Katzen grau
Das BAG hatte die in den Tarifverträgen vorgesehene Differenzierung gleichwohl als Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG gewertet und in der Folge angeordnet, die Zuschläge für Nachtschichtarbeit rückwirkend „nach oben anzupassen“. Die in der Nachtschicht Arbeitenden würden – so zumindest die Argumentation des BAG – gegenüber solchen, die außerhalb von Schichtsystemen Nachtarbeit leisteten, gleichheitswidrig schlechter gestellt und für die unterschiedliche Behandlung sei kein sachlicher Grund ersichtlich. Übersetzt: Nacht ist Nacht und in der Nacht sind eben alle Katzen grau. Den eigenen Kontrollmaßstab definierte das BAG im Rahmen seiner Entscheidungen dabei dahingehend, dass es die Aufgabe der Arbeitsgerichte sei, die Grundrechte der von den Tarifnormen erfassten Beschäftigten zu schützen, indem sie die Grundrechtsausübung durch die Tarifvertragsparteien beschränkten, wenn sie mit den Freiheits- und Gleichheitsrechten oder mit anderen Rechten der Normunterworfenen mit Verfassungsrang kollidierten. Der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG bilde als fundamentale Gerechtigkeitsnorm eine ungeschriebene Grenze der Tarifautonomie. Der Schutzauftrag der Verfassung verpflichte die Gerichte dazu, gleichheitswidrige Differenzierungen in Tarifnormen zu unterbinden und entsprechenden Regelungen die Durchsetzung zu verweigern.
Nach BVerfG: Kontrollmaßstab der Gerichte bei Tarifverträgen auf Willkür begrenzt
Bei diesem Verständnis des BAG von seinem Kontrollmaßstab im Rahmen der Tarifautonomie hakt das BVerfG in seinen beiden Beschlüssen vom 11.12.2024 (1 BvR 1109/21 und 1 BvR 1422/23) ein und verweist das BAG – um es mit erfreuten Worten sagen zu dürfen – in weiten Teilen des Spielfelds. Die Tarifparteien müssen Vereinbarungen ohne Einmischung des Staates treffen dürfen. Richtig ist es nach dem BVerfG zwar, dass die in kollektiver Privatautonomie handelnden Tarifvertragsparteien bei der Tarifnormsetzung den Grundsatz der Gleichbehandlung aus Art. 3 Abs. 1 GG beachten müssen. Wenn das BAG in den angegriffenen Entscheidungen aber einen zurückgenommenen Prüfungsmaßstab voranstellt, in der Sache dann aber doch eine detaillierte Prüfung vornimmt, verkennt es, dass die Bindung an den allgemeinen Gleichheitssatz zugleich den Zweck der Tarifautonomie erfordert, eine grundsätzlich autonome Aushandlung der Tarifregelungen zu ermöglichen. Bei Tarifnormen, deren Gehalt im Kernbereich der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen liegen und bei denen spezifische Schutzbedarfe oder Anhaltspunkte für eine Vernachlässigung von Minderheitsinteressen nicht erkennbar sind, ist die Arbeitsgerichtsbarkeit hingegen auf eine Willkürkontrolle beschränkt. Alles Weitere missachtet die Tarifautonomie.
Übergriffige Entscheidung auf Rechtsfolgenseite
Die vom BAG auf der Rechtsfolgenseite vorgenommene „Anpassung nach oben“ beanstandet das BVerfG ebenfalls mit einem Verstoß gegen Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG, da sich das tarifautonome Gestaltungsermessen nicht auf eine „Anpassung nach oben“ verdichtet hat. Dies gilt selbst dann, wenn eine Ungleichbehandlung überhaupt anzunehmen gewesen wäre. Das BVerfG stellt fest: (Arbeits-)Gerichte können Tarifverträge in der Regel nicht einfach eigenständig anpassen, wenn sie diese als rechtswidrig erachten. Soweit sich nicht aus dem Tarifvertrag selbst bereits die von den Tarifvertragsparteien gewollte Regelung ergibt und vielmehr verschiedene Möglichkeiten zur Beseitigung des Gleichheitsverstoßes offenstehen, müssen die Tarifvertragsparteien jedenfalls die Chance zur tarifvertraglichen Korrektur erhalten. Dies muss umso mehr Beachtung finden, wenn die richterliche Korrekturentscheidung sogar in die Zukunft gerichtet ist.
Für den Tarifrechtler schön zu lesen ist auch: „Der Vertrauensschutz ist anders als im Verhältnis zwischen Staat und Bürgern bei Tarifnormen allerdings doppelseitig und den tarifnormunterworfenen Koalitionsmitgliedern auf beiden Vertragsseiten zu gewähren.“ Übersetzt: Liebes BAG, Du kannst nicht nur für eine Seite pfeifen, MfG Dein BVerfG.
Es mögen die Spiele beginnen
Das BVerfG hat sich klar zur Tarifautonomie bekannt und diese Entscheidung wird sich ohne Frage auf eine Vielzahl bereits anhängiger Gerichtsverfahren auswirken. Insbesondere in den Verfahren, in denen es um eine ungleiche tarifliche Bezahlung vergleichbarer Tätigkeiten geht, ist mit einer Neuausrichtung zu rechnen. Das BVerfG hat dem Spiel, dass Arbeitsgerichte sich in die Gestaltung der Tarifverträge regelmäßig und vor allem nachträglich einmischen, jedenfalls dann ein Ende gesetzt, wenn die tarifliche Regelung sachlich begründet ist. Die Tarifgestaltung bekommt ihre originäre Bedeutung zurück. Darum gilt es nicht nur bestehende Tarifwerke auf „vorauseilende Zurückhaltung“ zu überprüfen. Auch beim Verhandeln neuer Tarifwerke weht ein frischer Wind. Die Begründung ist wieder wichtig! Spannend ist auch die Konsequenz bei gegen das Willkürverbot verstoßenden Regelungen und der vom BVerfG konstatierten Eigenkorrekturmöglichkeit der Tarifvertragsparteien. Wichtig hier, dass Tarifverträge zukünftig entsprechende Konfliktlösungsmechanismen vorhalten.