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Erschütterung des Beweiswerts einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung
26.11.2021

Arbeitsgerichte sind an eine nicht rechtskräftige Zustimmung des Integrationsamts gebunden

von Dr. Daniel Holler

Sachverhalt: Die Parteien streiten über die Rechtswirksamkeit einer Kündigung. Die Klägerin, die einem Schwerbehinderten gleichgestellt ist, arbeitete seit dem Jahr 2002 bei der Beklagten. Die Beklagte beantragte mit Schreiben vom 23. August 2018 die Zustimmung des Integrationsamts zu einer beabsichtigten außerordentlichen Kündigung. Das Integrationsamt eröffnete der Beklagten am 7. September 2018, dass wegen Fristablaufs nach § 174 Abs. 3 SGB IX die Zustimmung als erteilt gelte.

Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis der Parteien mit am selben Tag zugegangenem Schreiben vom 10. September 2018 unter Berufung auf verhaltensbedingte Gründe außerordentlich, hilfsweise ordentlich.

Die Klägerin legte gegen die Zustimmung des Integrationsamts Widerspruch (§§ 69 f. VwGO) ein. Mit einem Abhilfebescheid (§ 72 VwGO) vom 21. Februar 2019 hob das Integrationsamt den „Bescheid … vom 07.09.2018“ auf und versagte die Zustimmung zu der Kündigung, da die Beklagte die Frist des § 174 Abs. 2 SGB IX nicht eingehalten habe. Gegen den Abhilfebescheid erhob die Beklagte Klage vor dem Verwaltungsgericht, die zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Landesarbeitsgericht noch rechtshängig war.
Mit ihrer rechtzeitig beim Arbeitsgericht eingegangenen Klage hat sich die Klägerin gegen die Rechtswirksamkeit der Kündigungen vom 10. September 2018 gewandt und insbesondere geltend gemacht, dass die Zweiwochenfrist des § 174 Abs. 2 SGB IX nicht gewahrt worden sei.

Entscheidung: Die Kündigungsschutzklage hatte sowohl vor dem Arbeitsgericht als auch vor dem Landesarbeitsgericht Erfolg. Auf die Revision der Beklagten hin, hob das BAG (Urteil vom 22.07.2021 – 2 AZR 193/21) das Urteil des LAG auf und verwies es an das Landgericht zur erneuten Entscheidung zurück.

Die Annahme des Landesarbeitsgerichts, die Kündigungen seien schon deshalb nach § 134 BGB iVm. § 168 SGB IX nichtig, da der „Bescheid vom 7. September 2018“ auf den Widerspruch der Klägerin aufgehoben wurde, auch wenn dieser Abhilfebescheid noch nicht rechtskräftig, sondern mit einer verwaltungsgerichtlichen Klage von der Beklagten angefochten worden ist, erweist sich nach Ansicht des BAG als rechtsfehlerhaft.

Die Zustimmung des Integrationsamts zu der beabsichtigten Kündigung gilt vielmehr weiterhin als erteilt. Der Widerspruch gegen den Zustimmungsbescheid durch die Klägerin ändert hieran nichts, da weder Widerspruch noch Anfechtungsklage gegen den Zustimmungsbescheid eine aufschiebende Wirkung haben, § 171 Abs. 4 SGB IX. Auch werde die Rechtswirkung nach Auffassung des Senats nicht dadurch beeinträchtigt, dass das Integrationsamt auf den Widerspruch der Klägerin hin den Ausgangsbescheid aufgehoben und die Zustimmung zu der außerordentlichen Kündigung versagt hat, da der Abhilfebescheid seinerseits noch nicht rechtskräftig ist. Der Zustimmungsbescheid gelte so lange, wie er nicht – hier durch einen bestandskräftigen Aufhebungsbescheid – seinerseits aufgehoben ist.

Insoweit sei die ursprüngliche Zustimmungsfiktion des Integrationsamtes (§ 174 Abs. 3 S. 2 SGB IX) als wirksamer Verwaltungsakt bei der Entscheidung durch die Gerichte für Arbeitssachen zu berücksichtigen. Das gilt auch dann, wenn der wirksame Verwaltungsakt rechtswidrig ist, denn auch einen solchen haben die Gerichte zu beachten und ihren Entscheidungen als gegeben zugrunde zu legen.

Hinweis: Vor jeder Kündigung, die gegenüber einem schwerbehinderten Arbeitnehmer oder einem gleichgestellten Arbeitnehmer ausgesprochen wird, bedarf es nicht nur der Anhörung der Schwerbehindertenvertretung und des Betriebsrats, sondern auch der Zustimmung durch das Integrationsamt. Fehlt die Zustimmung des Integrationsamts, so ist die Kündigung unwirksam. Dabei bildet die Zustimmung (oder Ablehnung) als solches einen öffentlich-rechtlichen Verwaltungsakt. Die gerichtliche Überprüfung der Zustimmung (oder Ablehnung) obliegt damit den Verwaltungsgerichten. Stellt sich im gerichtlichen Verwaltungsverfahren heraus, dass die Zustimmung (oder Ablehnung) rechtswidrig erfolgt ist, so ist die Kündigung rückwirkend unwirksam (oder wirksam).

Das Zustimmungserfordernis des Integrationsamtes nach § 174 SGB IX bildet somit die Schnittstelle zwischen Arbeitsrecht und allgemeinem Verwaltungsrecht, die es dem arbeitsrechtlich geprägten Rechtsanwender häufig nicht einfacher macht.

Umso erfreulicher ist die klare Darstellung des BAG, das verwaltungsrechtlich sicher argumentiert: Der im Widerspruchsverfahren ergangene Abhilfebescheid stellt gegenüber dem ursprünglichen Zustimmungsbescheid einen eigenständigen Verwaltungsakt dar, dessen (Vollziehungs)Wirkungen durch die verwaltungsgerichtliche Anfechtung suspendiert werden. Damit wirkt der Zustimmungsbescheid des Integrationsamts weiter mit der Folge, dass die Gerichte für Arbeitssachen an sein Bestehen und seinen Inhalt gebunden sind, selbst wenn er rechtswidrig ist. Den Gerichten für Arbeitssachen kommt hinsichtlich eines rechtswidrigen, aber wirksamen, Verwaltungsaktes keine Verwerfungskompetenz zu, sondern sie sind als Organ des Staates grundsätzlich daran gebunden (Art. 20 Abs. 3 GG, § 43 VwVfG/ § 40 SGB X). Die Klägerin wird durch dieses Ergebnis auch nicht schutzlos gestellt, denn ihr bleibt die Möglichkeit einer Restitutionsklage (§ 580 Nr. 6 ZPO), soweit nach Rechtskraft der arbeitsgerichtlichen Entscheidung der Zustimmungsbescheid des Integrationsamtes im späteren verwaltungsgerichtlichen Verfahren rechtskräftig aufgehoben wird bzw. die Anfechtungsklage gegen den Aufhebungsbescheid rechtskräftig abgewiesen wird.

Interessant in diesem Zusammenhang ist noch die Frage, ob der Arbeitnehmer neben dem Widerspruch bzw. Anfechtungsklage gegen den Zustimmungsbescheid zugleich einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung nach §§ 80a Abs. 3 VwGO, § 80 Abs. 5 S. 1 Alt. 1 VwGO stellen kann. In diesem Fall hätten die Rechtsbehelfe gegen den Zustimmungsbescheid doch aufschiebende (Vollziehungs)Wirkung. Ein solcher Antrag wird allerdings überwiegend als unzulässig angesehen, denn für die Wirksamkeit der privatrechtlichen Kündigung kommt es auf die Wirksamkeit der Zustimmung und nicht auf deren Vollziehbarkeit an. Allerdings wird teilweise ein solcher Antrag als zulässig angesehen, weil die Anordnungsentscheidung zumindest im Rahmen des allgemeinen Weiterbeschäftigungsanspruchs von erheblicher (rechtlicher) Bedeutung sein kann.

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