Sonderfall des Befristungsendes
LAG Niedersachsen v. 22.02.2023 – 8 Sa 713/22
Die Arbeitnehmerin war als Pflegefachkraft auf Basis eines befristeten Arbeitsvertrags bei der Arbeitgeberin tätig. Fünf Wochen und zwei Tage vor Befristungsende meldete sich die Arbeitnehmerin krank und reichte eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ein. Mit zwei Folgebescheinigungen wurde ärztlicherseits eine Arbeitsunfähigkeit bis vier Tage vor Befristungsende bescheinigt. An diesen vier Tagen traf die Arbeitnehmerin vorhersehbar keine Arbeitsverpflichtung – an zwei Tagen war sie laut Dienstplan nicht eingeplant, an einem Tag erhielt sie laut Dienstplan einen Ausgleichstag und am vierten Tag baute sie Mehrstunden ab.
Die Arbeitgeberin verweigerte die Entgeltfortzahlung mit der Begründung, der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen sei erschüttert, weil die gesamte verbleibende Zeit des restlichen Arbeitsverhältnisses passgenau mit Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen abgedeckt worden sei.
Das Arbeitsgericht hatte der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht lehnte die dagegen von der Arbeitgeberin eingelegte Berufung ab.
Erhebliche Zweifel an der Erkrankung bei sich passgenau in Restdauer des Arbeitsverhältnisses nach Eigenkündigung einfügender Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung
Grundsätzlich trägt der Arbeitnehmer die Darlegungs- und Beweislast für die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Entgeltfortzahlung gemäß § 3 Abs. 1 S. 1 EFZG. Diesen Beweis kann er durch Vorlage einer (ordnungsgemäßen) ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung führen, der ein hoher Beweiswert zukommt. Will der Arbeitgeber den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttern, muss er hierzu tatsächliche Umstände darlegen und im Bestreitensfall beweisen, die geeignet sind, erhebliche Zweifel an der Erkrankung des Arbeitnehmers zu begründen; ein bloßes Bestreiten mit Nichtwissen reicht nicht aus.
Eine am Tag der Eigenkündigung eines Arbeitnehmers ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, die sich passgenau in die nach der Kündigung noch verbleibende Dauer des Arbeitsverhältnisses einfügt, ist geeignet, ernsthafte Zweifel am Vorliegen einer Erkrankung zu begründen (BAG v. 08.09.2021 – 5 AZR 149/21).
Gelingt dem Arbeitgeber eine Erschütterung des Beweiswerts, ist es sodann Sache des Arbeitnehmers, konkrete Tatsachen – welche Krankheiten, welche gesundheitlichen Einschränkungen, ärztlich verordnete Verhaltensmaßregeln bzw. Medikamente, etc. – darzulegen und zu beweisen, die den Schluss auf eine bestehende Erkrankung zulassen.
Erschütterung des Beweiswerts auch bei mehreren AU-Bescheinigungen sowie im Falle eines Befristungsendes möglich
Das LAG Niedersachsen hat die Rechtsprechung des BAG zur Erschütterung des Beweiswerts bei Koinzidenz von Arbeitsunfähigkeitszeitraum und Kündigungsfrist nun auf weitere Fallkonstellationen erweitert:
Nach Auffassung des LAG Niedersachsen ist nicht zwingend eine einzige Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erforderlich; vielmehr sei auch die Vorlage mehrerer Bescheinigungen während des restlichen Arbeitsverhältnisses geeignet, die Annahme einer Erschütterung des Beweiswerts zu stützen. Dies gilt nach dem Urteil des LAG Niedersachsen nicht nur bei einer Eigenkündigung, sondern kann auch im Falle einer vertraglich vereinbarten Befristung in Betracht kommen, wenn der am Ende des Arbeitsverhältnisses liegende Erkrankungszeitraum „passgenau“ mit dem sechswöchigen Entgeltfortzahlungszeitraum übereinstimmt.
Daran scheiterte es in dem vom LAG entschiedenen Fall: die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen deckten nicht den gesamten sechswöchigen Entgeltfortzahlungszeitraum ab, da die erste bescheinigte Arbeitsunfähigkeit erst fünf Wochen und zwei Tage vor dem Befristungsende begann und die letzte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vier Tage vor Befristungsende endete. Zwar hält das LAG die vier Tage Abweichung am Ende dann für unschädlich, wenn für die Klägerin frühzeitig erkennbar war, dass an diesen Tagen keine Arbeitspflicht bestand. Die fünftägige Abweichung bei Beginn des Arbeitsunfähigkeitszeitraums führt nach Auffassung des LAG jedoch dazu, dass eine „Passgenauigkeit“ nicht mehr bejaht werden kann, sodass keine Erschütterung des Beweiswerts gegeben ist und der Anspruch auf Entgeltfortzahlung der Klägerin besteht.
Vollständige zeitliche Überschneidung von Erkrankungsdauer und Restlaufzeit des Arbeitsverhältnisses als Voraussetzung für eine Erschütterung des Beweiswerts?
Zwischenzeitlich haben sich weitere Landesarbeitsgerichte mit der Thematik beschäftigt und bestätigen die Linie des LAG Niedersachsen:
Es kristallisiert sich heraus, dass die passgenaue zeitliche Überschneidung von Arbeitsunfähigkeitsdauer und verbleibender Zeit des restlichen Arbeitsverhältnisses eine entscheidende Rolle spielt – das LAG Mecklenburg-Vorpommern (Urteil vom 21.03.2023 – 2 Sa 156/22) hat eine Erschütterung des Beweiswerts ebenfalls unter anderem mangels vollständiger zeitlicher Koinzidenz abgelehnt, da der Arbeitnehmer nach Ausspruch einer Eigenkündigung noch mehrere Tage Arbeitsleistungen für den Arbeitgeber erbracht hatte, bevor er Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen einreichte.
Im Übrigen scheint sich abzuzeichnen, dass es sich nicht zwingend um eine einzige durchgehende Erkrankung handeln muss. Das LAG Schleswig-Holstein (Urteil vom 02.05.2023 – 2 Sa 203/22) hält eine Erschütterung des Beweiswerts ebenso wie das LAG Niedersachsen für möglich, wenn die Arbeitnehmerin nicht auf Basis einer einzigen Bescheinigung, sondern mit fünf aneinander anschließenden Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen passgenau bis zum Ablauf der Kündigungsfrist krankgeschrieben worden ist. Im Ergebnis hat das LAG Schleswig-Holstein aufgrund der besonderen Umstände des Falls einen Entgeltfortzahlungsanspruch der Arbeitnehmerin abgelehnt. Das LAG Niedersachsen hat die Revision zugelassen. Es bleibt abzuwarten, wie sich das BAG in Fortführung seiner Rechtsprechung aus dem Jahr 2021 positionieren wird.