Ist ein Arbeitnehmer ohne Verschulden arbeitsunfähig erkrankt, hat er gegen den Arbeitgeber Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall für die Zeit der Arbeitsunfähigkeit bis zur Dauer von sechs Wochen nach § 3 Abs. 1 S. 1 Entgeltfortzahlungsgesetz (EFZG). Solche Entgeltfortzahlungskosten können Arbeitgeber auf Dauer stark belasten und stellen oft ein Streitthema zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer dar. Einer ordnungsgemäß ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung kommt dabei ein hoher Beweiswert zu. Sie begründet zwar keine gesetzliche Vermutung einer tatsächlich bestehenden Arbeitsunfähigkeit. Dennoch werden Arbeitgeber in der Praxis oftmals mit der Situation konfrontiert, dass sie keine Kenntnis von den Krankheitsursachen des Arbeitnehmers haben und daher, sofern sie die Entgeltfortzahlung verweigern und der Arbeitnehmer diese einklagt, vor Gericht nur eingeschränkt Indiz-Tatsachen zur Erschütterung des Beweiswerts einer Arbeitsunfähigkeit vortragen können. Dann stellt sich die Frage, wann der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttert sein kann.
Anspruch auf Entgeltfortzahlung infolge Arbeitsunfähigkeit bei zwischenzeitlicher Kündigung?
Die Entscheidung des BAG betraf einen solchen Streit zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer um Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall: Der Arbeitnehmer legte am 02.05.2022 eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vom 02.05.2022 für den Zeitraum vom 02.05. bis 06.05.2022 vor. Zwischenzeitlich ging dem Arbeitnehmer am 03.05.2022 ein arbeitgeberseitiges Kündigungsschreiben vom Vortag zu, in dem die Kündigung zum 31.05.2022 erklärt wurde. Daraufhin legte der Arbeitnehmer mehrere Folge-Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vor, in denen die Arbeitsunfähigkeit zunächst bis zum 20.05.2022 und sodann vom 20.05.2022 bis zum 31.05.2022 bescheinigt wurde. Am 01.06.2022 war der Arbeitnehmer wieder arbeitsfähig und nahm eine neue Beschäftigung auf. Der Arbeitgeber verweigerte infolge dieser „verdächtigen“ Koinzidenz zwischen Kündigung und bescheinigter Arbeitsunfähigkeit für den Zeitraum ab 02.05.2022 die Entgeltfortzahlung und verwies auf begründete Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit. Der Arbeitnehmer begehrte daraufhin im Prozess Entgeltfortzahlung für den Zeitraum vom 02.05. bis 31.05.2022.
Erschütterung des Beweiswerts bei passgenauer Verlängerung und Aufnahme einer neuen Beschäftigung am Tag nach Ablauf der Kündigungsfrist
Die Revision der Beklagten hatte teilweise Erfolg. Jedenfalls hinsichtlich des Zeitraums vom 07.05. bis 31.05.2022 bejahte das BAG eine Erschütterung des Beweiswerts der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen.
In seinem Urteil betrachtete das BAG den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen für die verschiedenen Zeiträume gesondert. Es sah den Beweiswert der ersten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung als nicht erschüttert an, da die Erstbescheinigung bereits vor Zugang der Kündigung ausgestellt worden war. Für den Rest der Zeit bzw. die übrigen zwei Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen nahm das BAG jeweils eine Erschütterung des Beweiswerts an. Es begründete dies in seiner Entscheidung mit dem Zusammentreffen von zwei ungewöhnlichen Umständen, die jedenfalls in der Gesamtschau zu ernsthaften Zweifeln an dem Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen führten. Zum einen habe eine zeitliche Koinzidenz zwischen der „in den Folgebescheinigungen festgestellten passgenauen Verlängerung der Arbeitsunfähigkeit und der Kündigungsfrist“ vorgelegen, die Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers habe also über die gesamte Kündigungsfrist hinweg angedauert. Zum anderen sei der Arbeitnehmer anschließend pünktlich zum Antritt einer neuen Beschäftigung – und dies gerade nahtlos mitten in der Woche nach Ablauf der Kündigungsfrist – wieder genesen gewesen. Das BAG betont, dass diese Umstände unverfänglich sein mögen, sofern man diese jeweils gesondert betrachtet. In der Gesamtschau führe dies aber hier zu einer Erschütterung des Beweiswerts der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen ab dem 07.05.2022.
Der Fünfte Senat des BAG sprach dem Arbeitnehmer daraufhin nur die Entgeltfortzahlung für den Zeitraum der Erstbescheinigung vom 02.05. bis 06.05.2022 zu. Zudem wies er darauf hin, dass es sogar denkbar sei, dass auch dieser Anspruch im Einzelfall ausscheiden kann, wenn der Arbeitnehmer schon vor erstmaliger Krankmeldung Kenntnis von der geplanten arbeitgeberseitigen Kündigung gehabt hätte – z.B. durch vorherige Betriebsratsanhörung nach § 102 Abs. 2 S. 4 BetrVG.
Weiterhin gilt: Erschütterung des Beweiswerts abhängig von Umständen des Einzelfalls
Ernsthafte Zweifel am Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung können also dann bestehen, wenn passgenau für die Dauer der Kündigungsfrist mehrere Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vorgelegt werden und der Arbeitnehmer unmittelbar nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses eine neue Beschäftigung aufnimmt. Nunmehr ist durch die höchstrichterliche Rechtsprechung klargestellt, dass es dabei keinen Unterschied macht, ob die Kündigung durch den Arbeitnehmer oder den Arbeitgeber erfolgt. Die Entscheidung zeigt jedoch auch, dass die Erschütterung des Beweiswerts einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung weiterhin von den Umständen des Einzelfalls abhängt.
Zu beachten bleibt darüber hinaus: Selbst bei Erschütterung des Beweiswerts führt dies nicht automatisch zu einem Entfallen des Anspruchs auf Entgeltfortzahlung. In einem gerichtlichen Prozess fällt die Beweislast sodann auf den Arbeitnehmer zurück, der wiederum darlegen muss, dass er tatsächlich arbeitsunfähig erkrankt war.