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von Philipp A. Lämpe
Sachverhalt: Die Parteien streiten über einen Anspruch des Arbeitnehmers auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall und dabei insbesondere über den Beweiswert eingereichter Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen. Der Kläger war von Januar bis September 2020 bei der Beklagten beschäftigt. Das Arbeitsverhältnis endete aufgrund fristgemäßer Kündigung der Beklagten, welche dem Kläger am 02.09.2020 zuging, zum Ende jenen Monats Der Arbeitnehmer arbeitete sodann noch bis zum Freitag, den 04.09.2020 weiter. Für den Zeitraum ab Montag, den 07.09.2020 bis zum 30.09.2020 legte er dann jedoch zwei Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vor: eine Erstbescheinigung vom 07.09.2020 über eine Arbeitsunfähigkeit bis zum 20.09.2020 und eine sich anschließende Folgebescheinigung vom 21.09.2020 über fortbestehende Arbeitsunfähigkeit bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses am 30.09.2020. Der Arbeitgeber zahlte für September 2020 keine Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall.
Im Laufe des Verfahrens legte der Arbeitnehmer die Ausfertigungen der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen für den Versicherten vor, aus denen die „die AU-begründenden Diagnose(n) (ICD-10)“ ersichtlich wurden. Die behandelnde Ärztin gab jeweils „M25.51 G R“ als Grund an (= Gelenkschmerz Schulterregion gesichert rechts). Weiter legte er einen Befundbericht vom 17.09.2020 zu einer MRT-Untersuchung seines rechten Schultergelenks am 16.09.2020 vor. Der Arbeitnehmer vertrat die Auffassung, seine Arbeitsunfähigkeit habe er durch die vorgelegten Bescheinigungen nachgewiesen. Deren Beweiswert sei nicht erschüttert. Der Arbeitgeber ging indes davon aus, der Beweiswert der vorgelegten AU-Bescheinigungen sei sehr wohl erschüttert, da sie nicht entsprechend den Vorgaben der sog. „Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit und die Maßnahmen zur stufenweisen Wiedereingliederung nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 SGB V“ (kurz: AU-Richtlinie) ausgestellt worden seien. So hätten nach § 5 Abs. 1 Satz 4 der AU-Richtlinie (in der im September 2020 geltenden Fassung) Symptome – vorliegend die „Schulterschmerzen“ – nach spätestens sieben Tagen durch eine Diagnose oder Verdachtsdiagnose ersetzt werden.
Entscheidung: Das Arbeitsgericht Braunschweig gab der Klage des Arbeitnehmers auf Entgeltfortzahlung ganz überwiegend statt. Das Landesarbeitsgericht Niedersachsen wies die Berufung des Arbeitgebers zurück. Auch im vom Arbeitgeber angestrengten Revisionsverfahren konnte er nicht durchdringen – die Revision wurde zurückgewiesen.
Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG hat ein Arbeitnehmer grundsätzlich Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall durch den Arbeitgeber für die Zeit der Arbeitsunfähigkeit bis zur Dauer von sechs Wochen, wenn er durch Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit an seiner Arbeitsleistung verhindert ist. Nach allgemeinen Grundsätzen trägt der Arbeitnehmer zunächst die Darlegungs- und Beweislast für diese Anspruchsvoraussetzungen. Der Beweis krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit wird dabei in der Regel durch die Vorlage einer ärztlichen AU-Bescheinigung i.S.d. § 5 Abs. 1 Satz 2 EFZG geführt. Nach § 7 Abs. 1 Nr. 1 EFZG reicht die Vorlage einer solchen ärztlichen Bescheinigung i.S.d. § 5 Abs. 1 Satz 2 EFZG aus, um dem Arbeitgeber das Recht zur Leistungsverweigerung zu entziehen. Der ordnungsgemäß ausgestellten AU-Bescheinigung kommt auch im Rahmen einer gerichtlichen Auseinandersetzung über das Bestehen etwa eines Entgeltfortzahlungsanspruchs ein hoher Beweiswert zu. Aufgrund des hohen Beweiswerts genügt ein „bloßes Bestreiten“ der Arbeitsunfähigkeit mit Nichtwissen durch den Arbeitgeber nicht. Vielmehr kann der Arbeitgeber den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nur dadurch erschüttern, dass er tatsächliche Umstände darlegt und im Bestreitensfall beweist, die Zweifel an der Erkrankung des Arbeitnehmers mit der Folge ergeben, dass der ärztlichen Bescheinigung kein Beweiswert mehr zukommt.
Im vorliegenden Fall nicht relevant war nach Auffassung des BAG (Urteil vom 28.06.2023 – 5 AZR 335/22) die dazu in jüngster Zeit sowohl höchstrichterlich als auch durch Instanzgerichte ergangene Rechtsprechung zur Erschütterung des Beweiswerts bei Überschneidung der Erkrankungsdauer mit der Restlaufzeit des Arbeitsverhältnisses (vgl. etwa BAG v. 08.09.2021 – 5 AZR 149/21 sowie u.a. LAG Niedersachen v. 22.02.2023 – 8 Sa 712/22). Dies, da vorliegend eine Kongruenz zwischen der Kündigungsfrist und der Dauer der insgesamt bescheinigten Arbeitsunfähigkeit gerade nicht vorgelegen habe – der Arbeitnehmer habe schließlich, nachdem er die Kündigung zur Kenntnis genommen hatte, noch einige Tage weitergearbeitet.
Das BAG ging vorliegend aber davon aus, dass der Beweiswert einer AU-Bescheinigung nach den Umständen des Einzelfalls auch wegen Verstößen des ausstellenden Arztes gegen bestimmte Vorgaben der AU-Richtlinie erschüttert sein könne. Die AU-Richtlinie wird vom Gemeinsamen Bundesausschuss als oberstes Beschlussgremium der gemeinsamen Selbstverwaltung im deutschen Gesundheitswesen erlassen. Diese Beschlüsse sind nach § 91 Abs. 6 SGB V (nur) für die Träger des Gemeinsamen Bundesausschusses – die Kassenärztlichen Bundesvereinigungen, die Deutsche Krankenhausgesellschaft und den Spitzenverband Bund der Krankenkassen -, deren Mitglieder und Mitgliedskassen sowie für die Versicherten und die Leistungserbringer verbindlich. In § 5 EFZG – sowohl in der für den vorliegenden Fall des BAG maßgeblichen (alten) Fassung wie auch in ab 1. Januar 2023 aktuelle geltenden, neuen Fassung – werde die AU-Richtlinie nicht erwähnt und ihre Anforderungen würden nicht explizit in Bezug genommen. Vielmehr sei dort nur die Rede von „einer ärztlichen Bescheinigung“. § 5 Abs. 1 Satz 2 und Satz 5 EZFG stellten vielmehr eigene Anforderungen dazu auf, welche Informationen eine dem Arbeitgeber zum Nachweis der Arbeitsunfähigkeit vorzulegende Bescheinigung enthalten müsse. Danach seien lediglich in Schriftform das Bestehen der Arbeitsunfähigkeit und deren voraussichtliche Dauer anzugeben. Die AU-Richtlinie selbst entfalte keine unmittelbare Wirkung gegenüber dem Arbeitgeber und einem Arzt, der kein Vertragsarzt sei oder als Privatarzt gegenüber nicht gesetzlich versicherten Arbeitnehmern tätig werde. Auch Versicherte der Krankenkassen könnten einen solchen Arzt – auf eigene Kosten – frei wählen und müssen sich nicht an einen Vertragsarzt wenden. Daraus folge, dass bei der Prüfung, ob der Beweiswert einer AU-Bescheinigung erschüttert werde, nicht alle Bestimmungen der AU-Richtlinie relevant sein könnten. Formale Vorgaben, die (in erster Linie) kassenrechtliche Bedeutung hätten und das Verhältnis zwischen Vertragsarzt und Krankenkasse beträfen (wie Formulare und Angaben für die Abrechnung), seien grundsätzlich ohne Belang. Anders zu beurteilen seien hingegen die Regelungen in § 4 und § 5 der AU-Richtlinie, die sich auf medizinische Erkenntnisse zur sicheren Feststellbarkeit der Arbeitsunfähigkeit bezögen. Hierzu gehörten beispielsweise die Bestimmungen zur Feststellung der Arbeitsunfähigkeit aufgrund persönlicher ärztlicher Untersuchung und zur Dauer der zu bescheinigenden Arbeitsunfähigkeit. Es handele sich dabei zwar bereits von Gesetzes wegen nicht um zwingende Vorgaben, die die Arbeitsvertragsparteien und Arbeitsgerichte binden würden. Sie enthielten aber dennoch eine „Zusammenfassung allgemeiner medizinischer Erfahrungsregeln und Grundregeln zur validen Feststellung der Arbeitsunfähigkeit und bildeten den allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse ab“. Ein Verstoß gegen die Regelungen in § 5 Abs. 1 Satz 3 und Satz 4 der AU-Richtlinie, auf den im vorliegend zu entscheidenden Fall der Arbeitgeber berief, könne – so das BAG – daher grundsätzlich zu einer Erschütterung des Beweiswerts einer AU-Bescheinigung führen.
Die verwandte Kodierung nach ICD-10 betreffe indes primär das Abrechnungsrecht und damit zunächst das Verhältnis zwischen Vertragsärzten und Kassen. Die Diagnose sei Bestandteil einer ordnungsgemäßen Leistungsbeschreibung und zur Abrechnung vertragsärztlicher Leistungen zwischen Leistungserbringern, Abrechnungsstellen, Krankenversicherungen und -kassen erforderlich. Dennoch könne auch ein Verstoß gegen die Vorgabe in § 5 Abs. 1 Satz 4 der AU-Richtlinie, Symptome wie Fieber oder Übelkeit nach spätestens sieben Tagen durch eine Diagnose oder Verdachtsdiagnose auszutauschen – je nach den „im Einzelfall vom Arzt angegebenen ICD-10- Codes“ – in Zusammenschau mit der Dauer der bescheinigten Arbeitsunfähigkeit Zweifel an der Richtigkeit der Bescheinigung aufwerfen.
Ausgehend hiervon hielt das BAG – wohlgemerkt: im konkreten Einzelfall! – die Annahme der Vorinstanzen, der Arbeitnehmer sei im maßgeblichen Klagezeitraum infolge Krankheit an seiner Arbeitsleistung tatsächlich verhindert gewesen, für nicht zu beanstanden. Das Arbeitsgericht habe in seiner Entscheidung ausgeführt, dass und weshalb es nach Würdigung der vorgelegten AU-Bescheinigungen und des weiteren Parteivortrags davon ausgegangen sei, dass der Kläger seine Arbeitsunfähigkeit nachgewiesen habe. Diese Würdigung, die sich das LAG zu eigen gemacht habe, sei nicht zu beanstanden. Zwar dürfte grundsätzlich davon auszugehen sein, dass ein Verstoß gegen § 5 Abs. 1 Satz 4 der AU-Richtlinie den Beweiswert einer für zwei Wochen ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung auf der Basis von „Symptomen“ wie z.B. Fieber oder Übelkeit erschüttern könne. Ein solcher Verstoß hätte dann auch Auswirkungen auf die gesamte Bescheinigung. Das Arbeitsgericht stelle aber maßgeblich darauf ab, dass unklar sei, „in welchen konkreten Umständen die Beklagte einen Verstoß gegen die genannte Richtlinienvorschrift erkenne“. Es meint im Ergebnis, dass ein relevanter Verstoß gegen § 5 Abs. 1 Satz 4 der AU-Richtlinie nicht vorliege. Die ärztliche Feststellung, die hinter dem ICD-10 Code M25.51 G R stehe, könne schließlich nach Auffassung des Arbeitsgerichts durchaus eine Diagnose darstellen. Sie unterscheide sich qualitativ von der bloßen Feststellung unspezifischer Symptome. Damit habe die Ärztin in jener Sache eine „Schlüsselnummer“ gewählt, die sowohl nach Kapitel wie auch nach Untergruppe „Krankheiten“ umfasse. Dass das Arbeitsgericht bei der vorliegenden Kodierung aus dem Bereich der Gelenkerkrankungen keine Erschütterung des Beweiswerts der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen angenommen hat, unterliege daher keinen revisionsrechtlichen Bedenken.
Hinweis: Die Entscheidung reiht sich in eine Serie von bedeutenden und praxisrelevanten Entscheidungen zum Beweiswert von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen ein.
Dem Fernbleiben eines Arbeitnehmers nach Ausspruch einer Beendigungskündigung kommt in der Praxis eine große Bedeutung zu – nicht selten wurde die Möglichkeit der „Krankschreibung“ nahtlos bis zum (nach Kündigung bereits absehbaren) Ende des Arbeitsverhältnisses genutzt, um die Arbeitsleistung in dieser Phase nicht mehr „erbringen“, wohl aber noch Entgeltfortzahlung beanspruchen zu können. Auch wenn damit freilich kein Generalverdacht gegen Arbeitnehmer zum Ausdruck gebracht werden soll – schließlich können die psychischen Belastungen im Rahmen der Beendigungsphase des Arbeitsverhältnisses durchaus schneller zum Eintritt einer Arbeitsunfähigkeit führen –, so hielten sich viele Arbeitgeber doch einer solchen Praxis mehr oder minder für ausgeliefert. Zu hoch schienen die Hürden, den Beweiswert einer AU-Bescheinigung tatsächlich einmal zu erschüttern und die Entgeltfortzahlung verweigern zu können.
Die neuere Rechtsprechung des BAG und einiger Instanzgerichte zur Erschütterung dieses Beweiswerts bei nahtloser Arbeitsunfähigkeit zwischen Erhalt der Kündigung und Beendigungszeitpunkt eröffnet dem Arbeitgeber indes die Möglichkeit, keine Entgeltfortzahlung leisten zu müssen und den Beweiswert einer solchen AU-Bescheinigung eher zu erschüttern. Die vorliegende Entscheidung knüpft daran thematisch an, ist jedoch auch in den Fällen isoliert von Relevanz, in denen eine völlig zeitliche Kongruenz nicht bestand. Legt der Arbeitnehmer (ggf. aber nicht notwendigerweise nach Erschütterung des Beweiswerts wegen zeitlicher Kongruenz) etwa die Diagnose(n) offen, verbleiben für den Arbeitgeber – einzelfall- und diagnoseabhängig – durchaus (weitere) Möglichkeiten, den Beweiswert der AU-Bescheinigung (weiter) zu erschüttern. Die Entscheidung des BAG lässt darauf schließen, dass der Arbeitgeber in einem solchen Fall detailliert darzulegen haben wird, in welchen konkreten Umständen ein Verstoß gegen die genannte Richtlinienvorschrift erkannt werden könne. Es ist daher im Einzelfall eine detaillierte Auseinandersetzung mit diesen Regelungen geboten.