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Pflicht des Arbeitgebers zur Einführung eines Arbeitszeiterfassungssystems

von Dr. Jutta Cantauw

Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat entschieden, dass der Arbeitgeber nach § 3 Abs. 2 Nr. 1 Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) verpflichtet ist, ein System einzuführen, mit dem die von den Arbeitnehmern geleistete Arbeitszeit er-fasst werden kann. Der Betriebsrat kann die Einführung eines (elektronischen) Arbeitszeiterfassungssystems nicht über die Einigungsstelle erzwingen.

Sachverhalt: Im dem vom BAG entschiedenen Fall hatte der Betriebsrat beantragt, festzustellen, dass ihm ein Initiativrecht zur Einführung eines (elektronischen) Zeiterfassungssystems im Betrieb zusteht. Zuvor hatte der Betriebsrat erfolglos versucht, eine Betriebsvereinbarung zur Arbeitszeiterfassung zu verhandeln. Auf Antrag des Betriebsrats hatte das Arbeitsgericht eine Einigungsstelle zum Thema Abschluss einer Betriebsvereinbarung zur Einführung und Anwendung einer elektronischen Zeiterfassung eingesetzt, deren Zuständigkeit die betroffenen Arbeitgeberinnen gerügt hatten.

Entscheidung: Das Landesarbeitsgericht hatte dem Antrag des Betriebsrats stattgegeben. Das BAG (Beschluss vom 13.09.2022 – 1 ABR 22/21) gab den Arbeitgeberinnen Recht. Ein zwingendes Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats als Voraussetzung für die Einsetzung einer Einigungsstelle bestehe nach § 87 Abs. 1 Eingangssatz BetrVG nur, soweit eine gesetzliche oder tarifliche Regelung nicht bestehe. Bei unionsrechtskonformer Auslegung des § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG sei der Arbeitgeber bereits gesetzlich verpflichtet, die Arbeitszeiten der Arbeitnehmer zu erfassen. Diese gesetzliche Verpflichtung schließe ein – gegebenenfalls mit Hilfe der Einigungsstelle durchsetzbares – Initiativrecht des Betriebsrats zur Einführung eines Systems der Arbeitszeiterfassung aus.

Hinweis: Bereits vor dreieinhalb Jahren(!) hatte der Europäische Gerichtshof (EuGH) entschieden, dass die Mitgliedstaaten die Arbeitgeber zur Einführung eines Arbeitszeiterfassungssystem verpflichten müssen (EuGH vom 14.05.2019 – C – 55/18). Für den Gesetzgeber beinhaltete das einen Handlungsauftrag: Denn das deutsche Recht sieht für alle Arbeitgeber grundsätzlich nur eine Aufzeichnungspflicht hinsichtlich der über die werktägliche Höchstarbeitszeit (§ 3 ArbZG) hinausgehenden Arbeitszeit vor. Der Gesetzgeber war also aufgerufen, deutlich umfassendere Aufzeichnungspflichten zu regeln. Allen Ankündigungen zum Trotz blieb der Gesetzgeber untätig. Das BAG quittiert dies nunmehr, indem es eine für alle Arbeitgeber und Beschäftigte im Sinne des ArbSchG gel-tende, die gesamte Arbeitszeit umfassende Aufzeichnungspflicht in § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG „hineinliest“. Nach Auffassung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales sind damit jedenfalls Beginn, Ende und Dauer der täglichen Arbeitszeit zu erfassen (siehe https://www.bmas.de/DE/Arbeit/Arbeitsrecht/Arbeitnehmerrechte/Arbeitszeitschutz/Fragen-und-Antworten/faq-arbeitszeiterfassung.html). Anders als das Arbeitszeitgesetz gilt § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG auch für leitende Ange-stellte. Deren Arbeitszeit dürfte damit nunmehr ebenfalls aufzeichnungspflichtig sein. Die Aufzeichnungspflicht betrifft alle Arbeitszeitmodelle, auch die sogenannte „Vertrauensarbeitszeit“. Anders als ein Verstoß gegen die Aufzeichnungspflicht nach § 16 Abs. 2 ArbZG, ist die Verletzung der aus § 3 Abs. 2 ArbSchG folgenden Pflichten allerdings nicht unmittelbar bußgeldbewährt.

Die Entscheidung liegt bisher nur in Form einer Pressemitteilung vor. Die Begründung der Entscheidung bleibt abzuwarten. Dann lassen sich die Folgen der Entscheidung möglicherweise besser abschätzen.

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