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Probezeit von schwerbehinderten Menschen – neue Risiken bei fehlendem Präventionsverfahren

LAG Köln v. 12.09.2024 – 6 SLa 76/24

 

 

Dass gemäß § 167 Abs. 1 SGB IX in Arbeitsverhältnissen mit schwerbehinderten Menschen (schwbM) oder gemäß § 2 Abs. 3 SGB IX Gleichgestellten bei aufkommenden Schwierigkeiten ein sog. Präventionsverfahren durchzuführen ist, wissen fast alle Arbeitgeber. Seit einer Entscheidung des BAG aus dem Jahr 2016 zur Vorgängervorschrift des § 84 Abs. 1 SGB IX (BAG v. 21.04.2016 – 8 AZR 402/14) war es jedoch herrschende Meinung, dass diese Pflicht noch nicht während der ersten sechs Monate eines Arbeitsverhältnisses, in denen weder der allgemeine Kündigungsschutz nach § 1 KSchG noch der besondere Kündigungsschutz für schwbM nach § 168 SGB IX gilt, besteht. Das BAG sah daher in der Weglassung eines Präventionsverfahrens kein Indiz für eine Diskriminierung wegen der Schwerbehinderung (§§ 164 Abs. 2 S. 1 SGB IX, 7 Abs. 1 AGG). Besondere Anforderungen an die Probezeitkündigung im Falle mitgeteilter oder erkennbarer Schwerbehinderung waren somit nicht gestellt; der zur Einstellung eines schwbM bereite Arbeitgeber hatte eine relativ risikofreie Erprobungsmöglichkeit.

 

LAG Köln fordert neue Entscheidung des BAG heraus

 

Ausdrücklich entgegen dieser BAG-Entscheidung fällte das LAG Köln am 12.09.2024 ein vielbeachtetes Urteil, wonach die Verpflichtung des Arbeitgebers aus § 167 Abs. 1 SGB IX nicht erst nach Ablauf der sechsmonatigen Wartezeit aus § 1 Abs. 1 KSchG bzw. §§ 168, 173 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB IX gilt und somit bei Eintreten von personen-, verhaltens- oder betriebsbedingten Schwierigkeiten, die das Arbeitsverhältnis mit einem schwbM gefährden können (d.h. auch im Vorfeld einer Probezeitkündigung), immer ein Präventionsverfahren durchzuführen ist. Habe ein Arbeitgeber das nicht beachtet, begründe dies gemäß § 22 AGG die Vermutung, dass eine Kündigung wegen der Behinderung ausgesprochen wurde – mit der Folge einer gesetzlichen und vom Arbeitgeber zu widerlegenden Vermutung, dass gegen das Diskriminierungsverbot in § 164 Abs. 2 SGB IX verstoßen wurde und die Kündigung daher unwirksam sei.

Damit blieb das LAG Köln sogar hinter der noch strengeren Ansicht des erstinstanzlichen Gerichts (ArbG Köln v. 20.12.2023 – 18 Ca 3954/23) zurück: Es widersprach ausdrücklich der Sichtweise des Arbeitsgerichts, dass § 167 Abs. 1 SGB IX ein Verbotsgesetz sei und daher die Nichtdurchführung per se zur Nichtigkeit der Kündigung nach § 134 BGB führe; außerdem gelte „wegen der spezifischen Probleme, ein Präventionsverfahren vor Ablauf der Probezeit zum Abschluss zu bringen“, für die Widerlegung der Vermutung ein „abgesenktes Maß der Darlegungs- und Beweislast“. Im konkret zu entscheidenden Fall sah das LAG Köln die Vermutung sogar als widerlegt an, weil unstreitige Tatsachen gegen die Annahme einer „zumindest auch“ wegen der Schwerbehinderung des Arbeitnehmers erfolgten Kündigung sprachen. Indem sich das LAG Köln der bisherigen Rechtsprechung des BAG entgegenstellt, provoziert es eine erneute höchstrichterliche Entscheidung.

Die zugelassene Revision zum BAG ist bereits eingelegt (anhängig unter: BAG – 2 AZR 271/24). Bis zur Entscheidung des BAG besteht ein Risiko: Arbeitgeber müssen sorgfältig abwägen und das Urteil bei Einstellungsentscheidungen ebenso wie bei der Vorbereitung von Probezeitkündigungen beachten.

 

Was spricht für eine Änderung der BAG-Rechtsprechung?

 

Zunächst ist dem LAG darin zuzustimmen, dass der gesetzlichen Vorschrift über das Präventionsverfahren eine zeitliche Begrenzung wie etwa in § 1 Abs. 1 KSchG oder § 173 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX schlichtweg nicht zu entnehmen ist. Einer Auslegung im Sinne einer „ungeschriebenen Voraussetzung“ eines bereits vollständig geschützten Arbeitsverhältnisses dürfte die jüngere Rechtsprechung des EuGH (Urteile v. 10.02.2022 – C-485/20 und 18.01.2024 – C-631/22) entgegenstehen und vor allem der Wortlaut des § 173 SGB IX, der die Beschränkung auf Arbeitsverhältnisse mit schwbM von mehr als sechs Monaten Dauer nur auf die „Vorschriften dieses Kapitels“ und damit gerade nicht für das vorausgehende Kapitel 3 vorsieht, zu dem § 167 SGB IX gehört. Die zwischenzeitliche Novellierung des SGB IX könnte es dem BAG ohne Weiteres erlauben, von seiner Rechtsprechung aus dem Jahr 2016 abzurücken. Diese war von Überlegungen zu Sinn und Zweck des Präventionsverfahrens getragen, die jedoch vom LAG Köln zu Recht als wenig überzeugend kritisiert werden. Ausgeklammert hat das LAG dabei jedoch, dass schon aus zeitlichen Gründen die Notwendigkeit eines vollständig bis in die Umsetzung durchgeführten Präventionsverfahrens den rechtzeitigen Ausspruch einer Kündigung vor Ablauf der sechsmonatigen Wartefrist erheblich erschwert bzw. dass die zu beteiligenden Akteure eine Probezeitkündigung u.U. durch reine Verzögerungstaktik wirksam verhindern könnten.

Richtig ist in der Systematik des Diskriminierungsrechts und der Beweislastregel in § 22 AGG allerdings, dass die Nichtdurchführung eines Präventionsverfahrens trotz Kenntnis von einer Schwerbehinderung schon allein aus dem formalen Grund als Indiz-Tatsache im Sinne von § 22 AGG anzusehen ist, da § 167 Abs. 1 SGB IX Verfahrens- und/oder Förderpflichten zugunsten schwbM aufstellt. Nachdem während der ersten sechs Monate keine Zustimmung des Integrationsamts erforderlich ist, besteht zudem keine Möglichkeit, von der anerkannten Darlegungserleichterung bei Zustimmung des Integrationsamts zu profitieren. Nach BAG v. 25.01.2018 – 2 AZR 382/17 soll bei Erteilung der Kündigungszustimmung nur noch in Ausnahmefällen davon ausgegangen werden können, dass ein Präventionsverfahren die Kündigung hätte verhindern können.

Die praktischen Schwierigkeiten meint das LAG durch eine Anpassung der Darlegungs- und Beweislast berücksichtigen zu können. Diese bleiben juristisch aber völlig im Dunkeln. Das LAG Köln meint, das insoweit anzulegende Maß könne in Ansehung „einiger allgemeiner Besonderheiten des Präventionsverfahrens während der Probezeit“ und anhand der Umstände des konkreten Einzelfalls in einer Art Abwägung festgelegt werden. In diese Abwägung stellt das LAG sodann alles ein: von den Überlegungen des BVerfG zur Bedeutung der kündigungsschutzrechtlichen Wartezeit als Ausdruck einer verfassungsrechtlich geschützten Dispositionsfreiheit bis hin zur durchaus erkannten Problematik, ein Präventionsverfahren mit bis zu sieben Teilnehmern (Arbeitgeber, Arbeitnehmer, Betriebs-/Personalrat, Schwerbehindertenvertretung, Integrationsamt, ggf. Integrationsfachdienst und Betriebsarzt) in einer dem Sinn des Verfahrens entsprechenden Ernsthaftigkeit innerhalb der Probezeit durchzuführen und auch die zu Beginn eines Arbeitsverhältnisses mit einem schwbM auftretenden Schwierigkeiten von „typischen Anfängerfehlern“ zu unterscheiden. Dabei findet das LAG leider aber keine systematische Lösung und verlangt, wegen dieser Schwierigkeiten im Zusammenspiel von Wartezeit und Präventionsverfahren müsse bei der Darlegungs- und Beweislast für die Widerlegung der Diskriminierungsvermutung „ein dynamischer Maßstab angelegt werden“.

 

Was folgt daraus für Arbeitgeber?

 

Ob sich das BAG diesem Ansatz anschließt und ein solches „Fass aufmacht“, das zu einer unbegrenzten Kasuistik führen müsste, lässt sich in keiner Weise absehen. Dennoch müssen Arbeitgeber das Urteil des LAG Köln jetzt beachten: Derzeit ist als zumindest offen anzusehen, ob während der ersten sechs Monate des Arbeitsverhältnisses mit einem schwbM auf ein Präventionsverfahren verzichtet werden kann. Das Risiko, dass eine Kündigung wegen eines nicht zuvor durchgeführten Präventionsverfahrens unwirksam sein könnte, ist nicht von der Hand zu weisen. In Kündigungsschutzprozessen würde das Thema in jedem Fall eine Rolle spielen. Die Weigerung, Präventionsverfahren schon während der Wartefrist („Probezeit“) durchzuführen, könnte – gestützt auf das neue Urteil des LAG Köln – ggf. auch die Interessenvertretung der Arbeitnehmer (Betriebs- oder Personalrat) und/oder die Schwerbehindertenvertretung auf den Plan rufen, die für die Einhaltung und Durchführung einer etwaig durch § 167 Abs. 1 SGB IX gebotenen Maßnahme Sorge zu tragen haben und ebenfalls klagen könnten (§ 178 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX, § 80 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG, § 68 Abs. 1 Nr. 4, Nr. 5 BPersVG).

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Dr. Isabel Nazari Golpayegani

Fachanwältin für Arbeitsrecht und für Sozialrecht

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