Das Landessozialgericht Baden-Württemberg hat mit einem Urteil vom 18.12.2023 (L 4 BA 2237/21) erneut einen Trend der Rechtsprechung bestätigt, gerade bei einfachen Tätigkeiten häufig selbst dann von abhängiger Beschäftigung auszugehen, wenn die gewählte Gestaltung fast „schulmäßig“ zahlreiche Selbständigkeitskriterien der sozialversicherungsrechtlichen Statusbeurteilung erfüllt.
In der Entscheidung ging es um die Nachforderung der stolzen Summe von fast 200.000 EUR (!) für Sozialversicherungsbeiträge und Säumniszuschläge von einem kleinen Fahrradkurierdienst, den der Kläger unter Mitarbeit seiner Lebensgefährtin und unter Einsatz von hauptsächlich Schülern und Studenten als Fahrer betrieb. Diese übernahmen als „freie Mitarbeiter“ Abruffahrten, fest gebuchte Touren und Botenfahrten mit ihren eigenen Fahrrädern, nur wasserdichte Rucksäcke und Fahrradtaschen wurden vom Kläger gestellt. Die in der Zentrale tätige Lebensgefährtin war im Rahmen eines Midijobs knapp über der Geringfügigkeits- bzw. Minijobgrenze angemeldet, aber bezog daneben Pauschalhonorare aus einem mit ihrer Einzelfirma geschlossenen Servicevertrag.
Die eingesetzten Kurierfahrer hatten mit dem Kläger einen Rahmenvertrag, aber sie übernahmen die einzelnen Fahrten bzw. Zeitfenster im Rahmen von jeweils mit ihnen abgestimmten Einzelbeauftragungen. Es gab keine Verpflichtung zur Übernahme von Fahrten, bestimmter Aufträge oder Fahrten in bestimmtem Umfang oder innerhalb bestimmter Verfügbarkeitszeiträume. Weisungen waren vertraglich ausgeschlossen, auch tatsächlich nahm der Kläger auf die Art der Erledigung der übernommenen Fahrten keinen Einfluss. Die Vergütung der Fahrradkuriere erfolgte nicht nach dem Zeitaufwand, sondern feste Touren wurden pauschal (nach Strecke) bezahlt, die in den festgelegten Zeitfenstern absolvierten Botenfahrten nach Anzahl der Päckchen und deren Gewicht. Selbst eine wettbewerbliche Tätigkeit für andere Auftraggeber und der Einsatz eigener Mitarbeiter war ihnen bei vorheriger Genehmigung des Auftraggebers gestattet.
Für die eingesetzten Schüler und Studenten waren diese Freiheiten ihrer angenommenen Selbständigkeit und eine Vergütung nach Leistung durchaus attraktiv und auch in mehreren sozialversicherungsrechtlichen Betriebsprüfungen kam es zu keiner Beanstandung. Zum Verhängnis wurde dem Fahrradkurierdienst, dass nach einer Zufallskontrolle eines für den Kläger tätigen Kurierfahrers das Hauptzollamt tätig wurde und Ermittlungen nach dem Schwarzarbeitsgesetz aufnahm. Das Strafverfahren gegen den Unternehmer wurde wegen geringer Schuld eingestellt, aber die Feststellung abhängiger und damit sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung aller eingesetzten Kurierfahrer und die Bemessung von Beiträgen unter Anwendung auch der sog. Nettolohnfiktion führte zu dieser exorbitanten Nachforderungssumme. Wenig überraschend wurden auch die dem Einpersonenunternehmen der Lebensgefährtin gezahlten Honorare dem einheitlichen Beschäftigungsverhältnis zugerechnet und nachverbeitragt.
Klage und Berufung dagegen blieben ohne Erfolg.
Anwendung der eingeführten Kriterien, aber mit sehr starker Gewichtung
Das Landessozialgericht bestätigte die Einordnung der Tätigkeit dieser Fahrradkuriere als abhängige Beschäftigung im Sinne des Sozialversicherungsrechts. Die Tätigkeit eines Kurierfahrers könne zwar sowohl im Rahmen abhängiger Beschäftigung als auch im Rahmen selbstständiger Tätigkeit ausgeübt werden, aber schon, dass Einsatzpläne für feste Touren und Botenfahrten für die benötigten Kurierfahrer entsprechend den von ihnen gewünschten Wochentagen erstellt wurden, bedinge eine „Eingliederung in den Betrieb“. Abhängige Beschäftigung sei bei Kurierfahrern „nicht schon dadurch ausgeschlossen“ (!), dass diese auch eigene Arbeitsmittel einsetzten und bei ihren Einsätzen in Bezug auf den organisatorischen und zeitlichen Ablauf keinem Weisungsrecht unterlagen, weil mit der Vereinbarung bestimmter Fahrten eben schon feststehe, was die Kurierfahrer zu tun haben und diese mangels größeren Kapitaleinsatzes und damit Verlustrisikos ein „nennenswertes“ unternehmerisches Risiko nicht getragen hätten.
Die Freiheit, sich nach eigenen Wünschen für einzelne Aufträge bereitzustellen oder nicht, sei daher für die Frage der Weisungsgebundenheit oder der Eingliederung in den Betriebsablauf nicht entscheidend. Bei Vertragsgestaltungen, in denen die Übernahme einzelner Dienste vereinbart wird und kein Dauerschuldverhältnis mit Leistungen auf Abruf vorliegt, sei für die Frage der Versicherungspflicht allein auf die Verhältnisse abzustellen, die nach Annahme des Auftrags bzw. während der Ausführung der jeweiligen Einzelaufträge bestehen. Bei Zusage entstand die rechtliche Verpflichtung zur Übernahme eines Einsatzes – und dann waren die Kurierfahrer wie Arbeitnehmer und ohne eigenständige Gestaltungsspielräume verpflichtet, die Sendungen spätestens zu dem vom Kläger bestimmten Termin und von ihm bestimmten Ort abzuholen bzw. abzuliefern.
Selbständigkeitsmerkmale im Vergleich mit abhängiger Beschäftigung
Weder die eindeutig für Selbständigkeit sprechende Vertragsgestaltung noch die auch tatsächlichen Freiheiten der Fahrer und Selbständigkeitsmerkmale der Tätigkeit überzeugten die Gerichte. Dass vorausgegangene Betriebsprüfungen zu keiner Aufdeckung der Scheinselbständigkeit geführt hatten, hinderte weder diese Statusbeurteilung noch den Vorsatzvorwurf, erst recht nicht das vom Unternehmen ins Feld geführte „typische Berufsbild“ von Fahrradkurieren und die Marktüblichkeit der Ausgestaltung als freie Mitarbeit auch bei vergleichbaren Kurierdiensten. Eine „übliche Praxis“ sei nicht relevant.
Die Entscheidung zeigt eine Tendenz der Rechtsprechung auf, die vor allem auf Veränderungen der Bedingungen abhängiger Beschäftigung zurückzuführen ist: Je mehr es auch im Rahmen von Arbeitsverhältnissen dazu kommt, dass Freiheiten in der Arbeitszeitgestaltung eingeräumt und eigene Arbeitsmittel eingesetzt werden (BYOD, flexible Arbeitszeitgestaltung und Rücksichtnahmen auf Work-Life-Balance), und je weniger Spielräume für entweder eigene Entscheidungen oder Weisungen infolge einer relativ „einfachen“ Tätigkeit bestehen, desto mehr werden solche Vertragsverhältnisse, völlig ungeachtet ihrer Ausgestaltung, als abhängige Beschäftigung qualifiziert. Merkmale, die genauso bei Arbeitsverhältnissen vorkommen, fallen als Kennzeichen selbständiger Betätigung weg. Keinerlei Bedeutung für die Beurteilung wurde daher auch dem Umstand zugemessen, dass selbst eine wettbewerbliche anderweitige Tätigkeit nicht von vornherein ausgeschlossen war und die Fahrradkurierdienste (im konkreten Fall wie im Allgemeinen) nur kurzfristig bzw. nebenberuflich und in geringem Umfang ausgeübt werden, weil es eben auch nebenberufliche Arbeitsverhältnisse dieses Zuschnitts gibt.
Vorgehen von Arbeitgebern im Falle möglicher Risiken
Erkennen Arbeitgeber rechtzeitig, dass bestehende Auftragsverhältnisse das Risiko einer Scheinselbständigkeit bergen, sollten sie umgehend von sich aus tätig werden. Eine rechtssichere Klärung kann jederzeit – auch wenn die Vertragsverhältnisse bereits länger laufen – im Wege von Statusfeststellungsverfahren herbeigeführt werden, die im formulargestützten Verfahren nach § 7a SGB IV bei der Clearingstelle der DRV Bund zu beantragen sind. Ist eine Bereinigung etwaiger Versäumnisse auf diesem Wege nicht möglich, z.B. weil sich die ggf. der Nachverbeitragung zugrunde zu legenden Entgelte mangels erfasster Arbeitszeiten nur schätzen lassen (MiLoG) oder eine Nachmeldung im Nachhinein aufgrund nicht mehr zu ermittelnder Daten der einzelnen Beschäftigten nicht möglich wäre, kommt auch die Beantragung einer Sonderbetriebsprüfung in Betracht.
Der Vorteil eines proaktiven Zugehens auf die Sozialversicherungsträger liegt darin, dass ein Verschuldensvorwurf dann in der Regel nicht mehr erhoben wird, damit entfallen Säumniszuschläge (1 % pro Monat!) und v.a. der Strafvorwurf (§ 266 a StGB), auch einer etwaigen Anwendung von § 14 Abs. 2 SGB IV (Nettolohnfiktion) auf die Entgeltbemessung für die nicht angemeldeten Beschäftigten kann damit meist noch entgangen werden. Darüber hinaus wird die ungute Situation früher beendet, dass ein nachträglicher Beitragsabzug des Arbeitnehmeranteils am Gesamtsozialversicherungsbeitrag nicht zulässig ist und der Arbeitgeber diesen somit allein zu tragen hat (§ 28g SGB IV). Bloßes Abwarten wäre daher rechtlich und wirtschaftlich falsch und die Hoffnung auf unerkannt bleibendes „Durchkommen“ oft naiv: Zur Aufdeckung von Scheinselbständigkeit kommt es nicht nur im Rahmen der regelmäßig alle vier Jahre stattfindenden sozialversicherungsrechtlichen Betriebsprüfungen, sondern häufig auch infolge einer (ggf. auch deutlich später oder nach Beendigung der Zusammenarbeit möglichen) Geltendmachung einer abhängigen Beschäftigung durch die vermeintlich freien Mitarbeiter selbst, da die ggf. Befristungs-/ Kündigungsschutz, Urlaubs- und EFZ-Ansprüche und soziale Absicherung davon abhängen.