Die Parteien streiten darüber, ob der Arbeitgeber teilzeitbeschäftigten Arbeitnehmerinnen Überstundenzuschläge bereits ab Überschreiten der mit diesen arbeitsvertraglich vereinbarten Arbeitszeit zu zahlen hat oder – so wie dies die einschlägige Tarifregelung vorsieht – erst ab Überschreiten der regelmäßigen Arbeitszeit einer entsprechenden Vollzeitkraft. Außerdem verlangen die Arbeitnehmerinnen eine Entschädigung wegen einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts nach § 15 Abs. 2 AGG.
Der Arbeitgeber ist ein ambulanter Dialyseanbieter. Die Arbeitnehmerinnen sind Pflegekräfte in Teilzeit von 40 % bzw. 80 % der regelmäßigen Arbeitszeit einer Vollzeitkraft. 84,74 % der Teilzeitkräfte und 68,20 % der Vollzeitkräfte des Arbeitgebers sind Frauen.
Die Fragen des BAG an den EuGH
Weil es für deren Entscheidung auf die Auslegung von Unionsrecht ankam, legte das BAG (v. 28.10.2021 – 8 AZR 370/20 (A), 372/20 (A)) dem EuGH u.a. folgende Fragen zur Vorabentscheidung vor:
- Liegt eine Ungleichbehandlung von Teilzeitbeschäftigten vor, wenn Teilzeitkräfte zwar für die gleiche Anzahl geleisteter Arbeitsstunden das gleiche Entgelt erhalten wie Vollzeitkräfte, diese aber über die arbeitsvertraglich vereinbarte Arbeitszeit hinaus mehr zusätzliche Arbeitsstunden leisten müssen als Vollzeitkräfte, um einen Zuschlag zu erhalten?
- Kann eine solche Ungleichbehandlung von Teilzeitbeschäftigten ggf. auch dann gleichzeitig eine (mittelbare) Ungleichbehandlung wegen des Geschlechts darstellen, wenn sowohl in der benachteiligten Gruppe (Teilzeitkräfte) als auch in der bevorzugten Gruppe (Vollzeitkräfte) mehr Frauen als Männer sind?
- Kann eine Ungleichbehandlung gerechtfertigt sein, wenn die Regelung einerseits den Arbeitgeber abhalten soll, Überstunden anzuordnen und eine Inanspruchnahme über das vereinbarte Maß hinaus mit einem Zuschlag honoriert und andererseits eine Ungleichbehandlung der Vollzeitkräfte verhindern soll und deshalb den Zuschlag erst vorsieht, wenn die Arbeitszeit einer Vollzeitkraft überschritten wird?
Das BAG tendierte dabei dazu, bereits eine Ungleichbehandlung abzulehnen.
Die Antworten des EuGH
Der EuGH bejaht sowohl eine Ungleichbehandlung wegen der Teilzeit als auch eine (mittelbare) Ungleichbehandlung wegen des Geschlechts. Die zur Rechtfertigung der Ungleichbehandlung vorgebrachten Regelungsziele sind nach Auffassung des EuGH generell nicht tragfähig.
(Ungerechtfertigte) Schlechterstellung von Teilzeitkräften
Die Vergütung der Teilzeitkräfte muss – vorbehaltlich der Anwendung des pro rata temporis Grundsatzes – der Vergütung der Vollzeitkräfte entsprechen, es sei denn, die Ungleichbehandlung ist durch einen sachlichen Grund gerechtfertigt.
Wird die Anzahl der Arbeitsstunden, ab der die Teilzeitkräfte einen Überstundenzuschlag erhalten, nicht proportional zur individuellen Arbeitszeit gekürzt, werden die Teilzeitkräfte – so der EuGH – ungleich behandelt. Die Prüfung, ob im konkreten Einzelfall ein rechtfertigender sachlicher Grund vorliegt, obliegt dem nationalen Gericht. Die vom BAG zur Rechtfertigung angeführten Ziele seien aber generell ungeeignet.
Das Ziel, den Arbeitgeber von Überstundenanordnungen abzuhalten, werde für die Teilzeitkräfte nicht erreicht. Die Regelung schaffe einen Anreiz, Überstunden eher bei Teilzeitbeschäftigten anzuordnen. Überstunden, die die Teilzeitkräfte bis zur regelmäßigen Arbeitszeit von Vollzeitkräften leisten, seien zuschlagsfrei und für den Arbeitgeber damit wirtschaftlich weniger belastend als die gleiche Anzahl der von Vollzeitbeschäftigten geleisteten Überstunden.
Die Regelung verhindere auch keine Benachteiligung der Vollzeitbeschäftigten. Die Vollzeitkräfte würden nicht benachteiligt, sondern gleichbehandelt. Vollzeitbeschäftigte und Teilzeitbeschäftigte erhielten den Zuschlag jeweils ab Überschreiten ihrer individuellen Arbeitszeit – vorbehaltlich der Anwendung des pro rata temporis Grundsatzes.
(Ungerechtfertigte) mittelbare Schlechterstellung von Frauen
Eine mittelbare Diskriminierung wegen des Geschlechts liegt vor, wenn die diskriminierende Regelung an auf den ersten Blick neutrale Kriterien anknüpft, sich dies aber deutlich stärker zulasten des anderen Geschlechts auswirkt, es sei denn, dies ist durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt.
Der EuGH bejaht eine mittelbare Benachteiligung wegen des Geschlechts. Von der nachteilhaften Zuschlagsregelung seien deutlich mehr Frauen als Männer betroffen. Darauf, ob der Anteil der Frauen auch in der begünstigten Gruppe (Vollzeitbeschäftigte) höher sei als der der Männer, komme es nicht an.
Die Benachteiligung wegen des Geschlechts könne durch die vom BAG angeführten Ziele der Überstundenregelung aus den bereits im Zusammenhang mit der Schlechterstellung der Teilzeitkräfte angeführten Gründen nicht gerechtfertigt werden. Die abschließende Beurteilung des konkreten Sachverhalts obliege aber dem BAG.
BAG muss nun abschließend entscheiden – was Arbeitgeber dazu wissen sollten
Das Bundesarbeitsgericht hat kaum Spielraum, eine unzulässige Diskriminierung sowohl wegen der Teilzeit als auch wegen des Geschlechts abzulehnen. Mit der Annahme einer Diskriminierung wegen des Geschlechts ist dann – jedenfalls im Grundsatz – auch das Tor für den Entschädigungsanspruch geöffnet.
Die lange sehr umstrittene Frage, ob die Teilzeitkräfte durch die Zahlung eines Überstundenzuschlages erst ab Überschreiten der regelmäßigen Arbeitszeit vergleichbarer Vollzeitkräfte ungleich behandelt werden, ist durch den EuGH nunmehr geklärt. Auf dieser Linie lag schon die Entscheidung des EuGH vom 19.10.2023 (C – 660/20 zu den Auslösegrenzen für Überstundenzuschläge bei Piloten; dazu 01.2024 infomaat). Ob überhaupt und vor allem welche Zwecke eine Ungleichbehandlung beim Überstundenzuschlag rechtfertigen könnten, ist offen. Jedenfalls die vom BAG vorliegend angeführten Zwecke sind zur Rechtfertigung der Ungleichbehandlung ungeeignet.
Regelungen, die Überstundenzuschläge erst ab Überschreiten der regelmäßigen Arbeitszeit von Vollzeitkräften vorsehen, sind sehr verbreitet. Diese Regelungen gehören auf den Prüfstand. Arbeitgeber, die entsprechende Zuschlagsregelungen anwenden, sollten sich darauf einrichten, dass Teilzeitkräfte vermehrt Überstundenzuschläge bereits ab Überschreiten ihrer individuellen Arbeitszeit fordern und entsprechende Ansprüche im Rahmen von Ausschlussfristen und Verjährung ggf. auch für die Vergangenheit geltend machen. In geeigneten Fällen kommen Entschädigungsansprüche nach dem AGG in Betracht. Auch bei Betriebsprüfungen könnte die neue Rechtsprechung zukünftig eine Rolle spielen – mit Blick auf die auf die Zuschläge zu entrichtenden Sozialversicherungsbeiträge.